Starke Frauen?

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hennie Avatar

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Von den Mitford-Schwestern hatte ich noch nie etwas gehört. Sie waren zu sechst und waren damals berühmt, vergleichbar vielleicht mit den heutigen It-Girls. Sie gehörten zu den Bright Young Things, zu einer Gruppe junger Adliger der gehobenen britischen Gesellschaft.

Marie Benedict beginnt ihren Roman mit dem Debütantenball Unity Mitfords aus der Sicht von Nancy, der Ältesten der Geschwister. Abwechselnd kommen dann drei der Schwestern von jeweils der gleichen Örtlichkeit mit identischem Datum zu Wort. Das ergibt interessante und teilweise sehr bemerkenswerte Einblicke in das Leben von Nancy (geb. 1904), Diana (geb. 1910) und Unity (geb. 1914). Sie waren verwandt, verschwägert, befreundet mit berühmten Zeitgenossen. Die Zeit umfasst die Jahre 1932 bis 1941.
Nancy fungiert als Ich-Erzählerin, die leider keine fortlaufende Geschichte präsentiert, sondern Ereignisse unterbreitet, in deren Mittelpunkt dann jeweils sie, Diana und Unity stehen. Diese drehen sich in der Hauptsache um den familiären Hintergrund der Mitford-Familie und um die fanatische Hinwendung von Diana und Unity zur faschistischen Ideologie. Mir war unwohl, wie die Autorin die geschichtlichen Fakten mit dem Leben der Schwestern verbindet ohne einen Kontext zu finden, der mit unserem heutigen Wissen eine Relativierung findet, ja, eigentlich finden muss. Spricht aus Benedicts Schreibweise die etwas unbekümmerte amerikanische Sicht auf die politische und soziale Konstellation dieser Zeit? Die Einbindung der geschilderten Ereignisse erfolgt in Nebensätzen (Judenverfolgung, Beschlagnahme der jüdischen Wohnungen, KZ, Olympische Spiele 1936 in Deutschland usw.), aber das ist mir zu oberflächlich. Der Erzählstil der Autorin liest sich zwar flüssig, doch für die gefährliche Nähe vor allem Unitys zu Hitler ist er mir zu gefällig.
Ich stelle fest, dass Nancy Mitford dem hohen Anspruch vom Klappentext nicht gerecht wird. Ich zitiere u. a.: „Im Mittelpunkt dieses Romans stehen die tapferen Bemühungen der Schriftstellerin Nancy Mitford, die Nazis daran zu hindern, Großbritannien einzunehmen.“ Es ist für mich fraglich, ob sie ihre Schwester verraten hätte, wäre sie nicht verwandtschaftlich verbunden gewesen mit Winston Churchill. Auf S. 401 lesen sich ihre Gedanken folgendermaßen, quälend und nicht nachvollziehbar: "Oder vielleicht,...,ging auch überhaupt nicht Schändliches vor sich. Vielleicht tranken Diana und Unity einfach nur gerne Tee mit Hitler, und er spendierte ihnen aus schierer Bewunderung und Freundschaft Wohnungen, Geld und Radiosender.“
Es gibt kein Nachwort der Autorin, nur eine kurze Anmerkung und das bei einem Roman, der über 400 Seiten stark ist.
Das Buch endet, wie es angefangen hat, irgendwie sehr unverbindlich und mit vielen offenen Fragen. Da mir die Mitford-Schwestern bisher unbekannt waren, habe ich mir zu ihnen viel erarbeitet. Die Informationen hätte ich gern von der Autorin erhalten, in Form eines Stammbaumes, evtl. ein kleines Vorwort, vielleicht ein Prolog und am Ende ein abschließendes Statement, um die Familie Mitford im Zeitgeist und auch später einzuordnen. Das Leben ging ja weiter. Diana z. B. ist sehr alt geworden. Mich lässt dieses Buch unbefriedigt zurück. Es war für mich das Dritte, was ich von Marie Benedict gelesen habe. "Frau Einstein" ging in Ordnung, aber mit „Die einzige Frau im Raum“ war ich schon nicht mehr so zufrieden.
Die Mitford-Schwestern in der Reihe „Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte“ vorzustellen, sehe ich kritisch. Dafür waren die drei Schwestern Nancy, Diana und vor allem Unity viel zu sehr auf problematische Männer, Diana und Unity zusätzlich auf die faschistische Ideologie fixiert.

Fazit:
Mich störte die weitgehende, unreflektierte Sichtweise der Autorin Marie Benedict auf die faschistische Ideologie und ihre Führer sehr, vor allem in einer Reihe, die sich „Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte" nennt. 2 von 5 Sternen und keine Leseempfehlung!