Philosophie und Melancholie

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medsidestories Avatar

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Die Idee hinter „Die Mitternachtsbibliothek“ ist auf der einen Seite sehr ungewöhnlich und dann auch wieder doch nicht.
Die Frage "Was wäre, wenn ich mich an dieser oder jener Stelle meines Lebens anders entschieden hätte?" hat sich vermutlich jeder schon einmal gestellt. Und trotzdem habe ich noch nie gesehen, dass ein Autor diesen Gedanken weiter gesponnen hat.

Durch die Leseprobe bin ich nur so geflogen. Der Schreibstil erinnert mich an den Erzähler aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“. Er is allwissend und es kommt mir so vor, als würde er Nora von sehr weit weg betrachten. Gleichzeitig werden ständig sehr spezielle, auf den ersten Blick fast nebensächliche Details aus ihrem Leben betont. Wenn man bedenkt wie distanziert der Erzählstil ist, scheint es fast schon verrückt, wie sehr Noras letzte Stunden unter die Haut gehen. Beim Lesen verspürt man die ganze Zeit über den Wunsch eingreifen und Nora aufhalten zu können. Auch wenn ich bereits wusste, dass es nicht passieren wird, habe ich die ganze Zeit über gehofft, dass eine Figur in der Geschichte auftaucht, die dazu in der Lage ist.

Obwohl es sich hier um ein sehr trauriges Thema handelt und über dem ganzen Text eine schwere Melancholie liegt, habe ich unterschwelligen Humor - oder vielleicht auch Zynismus - herausgelesen. Das hat mir gut gefallen. In den Stunden vor Noras Tod sind viele Wendungen in ihrem Leben angedeutet worden, von denen ich hoffe, dass sie im weiteren Verlauf noch näher beleuchtet werden. Ich würde gerne wissen, was aus ihr geworden wäre, hätte sie das Schwimmen nicht aufgegeben oder die Band nicht verlassen oder gar geheiratet. Außerdem mag ich die Verflechtung der Geschichte mit philosophischen Gedanken. Das gibt ihr noch einmal einen ganz eigenen Unterton.

Da Nora in der Leseprobe noch noch gestorben ist, konnte man leider noch nicht entdecken, wie die Mitternachtsbibliothek überhaupt aussieht. Es ist ja immer eine Kunst für sich, einen völlig imaginären Raum literarisch darzustellen.

Ich bin absolut unentschieden bzgl. der Auflösung des Plots. Ob Nora zurück ins Leben findet und, wenn ja, in welches? Etwa in das alte oder vielleicht auch in eines der vielen neuen? Außerdem interessiert mich, ob diese anderen Leben, die ihr in der Mitternachtsbibliothek aufgezeigt werden sollen, tatsächlich so viel besser sein werden, als das, was sie hatte. Oder, ob es einen ganz bestimmten Weg für sie geben wird, der sich als der Beste herausstellt.
Gleichzeitig interessiere ich mich auch allgemein dafür, wie mit psychischen Erkrankungen in der Literatur umgegangen wird.

Alles in Allem klingt das „Die Mitternachtsbibliothek“ extrem vielversprechend. Die Geschichte hat so viel Potenzial und ich würde mich über eine sensible Umsetzung freuen, die an den richtigen Stellen helle Momente enthält und Hoffnung gibt.