Hinter den Erwartungen zurückgeblieben

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
nightingowl Avatar

Von

Ich habe vorher schon viel über „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig gehört und war sehr erfreut und aufgeregt, als ich tatsächlich bei der Verlosung gewonnen habe. Und dann habe ich mit dem Lesen begonnen und gemerkt, dass ich irgendwie mehr erwartet habe.

Das Cover für dieses Buches ist wirklich atemberaubend und perfekt auf die Handlung abgestimmt! Auch die Gestaltung innen mit der aufgedruckten Lasche für eine Karteikarte mit Ausleih- und Rückgabeterminen gefällt mir.

„Die Mitternachtsbibliothek“ ist Noras ganz eigene Visualisierung, um sich die Unendlichkeit der Möglichkeiten und des Universums greifbar zu machen. Sie ist Mitte 30 und an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, an dem sie sich einfach nur nutzlos, unbedeutend und verzweifelt fühlt. Als eines Tages ein kleiner Dominostein lauter unglückliche Ereignisse für sie ins Rollen bringt, ist sie am Abend bereit, sich das Leben zu nehmen. Ein letzter Abschiedsbrief und statt zu sterben geht sie in einen Zustand zwischen Leben und Tod über: für sie ist das die Mitternachtsbibliothek.

Eine bedeutende Person aus ihren Leben, die Schulbibliothekarin Mrs Elm, empfängt sie dort und leitet sie fortan durch mögliche Alternativen ihres Lebens (oder eher, Nora führt sich selbst dort hindurch, aber in der Form von Mrs Elm). Sie wirft einen Blick in Das Buch des Bereuens und wandert durch Paralleluniversen und andere Leben, die sie anprobieren kann wie neue Kleider. Wenn sie absolute Enttäuschung in einer Variante ihres Lebens erfährt, wird sie zurück in die Mitternachtsbibliothek katapultiert. Die Grundidee dieser Mitternachtsbibliothek finde ich zauberhaft und sehr fantasievoll. Das Bild, was sich dort auftut, ist einfach wunderschön und hat so viel Potential. Was für mich nicht ganz genutzt wurde, denn die Bibliothek funktioniert nur als Zwischenstation, als Bahnhof für Nora, um zwischen den Leben zu wechseln. Letztendlich verbringt sie dort weniger Zeit, als ich zu Beginn erwartet habe.

Haigs Schreibstil ist dabei sehr flüssig, aber war für mich jetzt auch nicht herausragend. Die Übersetzungen haben sich für mich organisch angefühlt und ich bin gut durchgekommen. Das Buch ist, durch Noras vorangegangenes Philosophie-Studium im Ursprungsleben, regelrecht vollgestopft mit philosophischen Zitaten und Ansätzen. Ich studiere selbst Philosophie, wenn auch nicht so begeistert und intensiv wie Nora, und freue mich eigentlich immer über solche Ansätze in Büchern, aber an einigen Stellen wurde es selbst mir etwas zu viel. Außerdem wirkt das Buch sehr zerpflückt, einige Kapitel sind gerade einmal eine Seite lang oder werden durch Songtexte, Gedichte und Social Media Beiträge von Nora unterbrochen. An sich keine schlechte Idee, aber manchmal haben sie mich eher aus dem Lesefluss gerissen, als dass sie Nora für mich greifbarer gemacht haben.

Und es geht leider weiter mit Kritik: Ich finde alle Charaktere etwas flach und grau gezeichnet. Das rührt wahrscheinlich daher, dass Nora in so viele verschiedene Leben reinschnuppert und immerzu neue Menschen bzw. neue Varianten einiger Charaktere auftauchen. Aber auch die einzige Konstante im Buch, die Protagonistin selbst, konnte mich nicht überzeugen. An einigen Stellen hat sie so out of character gehandelt, dass sie für mich nicht mehr nachvollziehbar war. Außerdem musste ich mich regelmäßig daran erinnern, dass sie bereits eine Frau in ihren 30ern ist und keine unbeholfene, „it’s not a phase, mom“-Teenagerin. Psychische Krankheiten hin oder her.

Das ist der nächste Punkt: Noras mentale Gesundheit. Ich war ganz überrascht, als ich erfahren habe, dass der Autor selbst mit Depression zu kämpfen hatte. Denn als ich das Buch gelesen habe, kam es mir so vor, als hätte es jemand geschrieben, der sich nicht wirklich in Menschen mit psychischen Krankheiten hineinversetzen kann oder keine Erfahrung damit hat. Es wird zwar oft genug erwähnt, dass Nora Antidepressiva nimmt und eine Karriere in einer Band wegen Panikattacken aufgegeben hat. Aber diese Thematik verläuft im Laufe des Buches im Sande und wird am Ende gar nicht mehr richtig aufgegriffen.

Mir hätten das erste Drittel und dann die letzten Kapitel des Buches gereicht, um die Botschaft zu verinnerlichen, die Matt Haig den Leser*innen regelrecht unter die Nase reiben möchte. Aber ich hatte ein bisschen das Gefühl, zu schnell zu wissen, worauf das Ganze hinauslaufen und was am Ende der springende Punkt für Nora sein wird. In dieser Lektüre war das leider zu früh zu erahnen und das Leseerlebnis dann nicht mehr wirklich spannend.

Viel interessanter fand ich da einige Leben von Nora, z. B. das als Gletscherforscherin, die Idee von mehreren Menschen in verschiedenen Bibliotheken und eine Botschaft, die eher indirekt im Buch formuliert wurde. Manchmal ist die Welt mehr Schein als Sein. Wenn man mit seinen Mitmenschen redet, fällt einem oft auf, dass sie Erlebnisse und Erinnerungen ganz anders wahrnehmen als man selbst und die eigene Empfindung absolut subjektiv ist. Wir werden dahingehend sehr von unseren Verletzungen, Enttäuschungen und von Reue beeinflusst.

Letztendlich gebe ich dem Buch 3 von 5 Sternen und schäme mich fast ein bisschen dafür. Ich würde wirklich gern mehr Sterne geben, aber mehr ist für mich einfach nicht drin. Es ist ein gutes Buch, bleibt in seinen Kernpunkten aber zu oberflächlich. Ich möchte dem Autor seine eigenen Erfahrungen mit Depression auf keinen Fall absprechen. Sie sind absolut valid. Aber ich finde, in Zukunft darf in der Literatur noch mehr Mut gezeigt werden, was Themen wie psychische Krankheiten angeht. Es reicht nicht, sie zu erwähnen und dann aufzuzählen, was der Charakter alles schon Schlechtes erlebt hat. Sie dürfen noch klarer dargestellt werden und vor allem auch, dass es sich dabei um klinische Krankheitsbilder handelt, die behandelt und therapiert werden können. Aber das ist eben nicht immer nur mit Selbsttherapie und einer Mitternachtsbibliothek getan. Das kann beides helfen und auf einen Weg der Heilung führen. Vielleicht brauchen es einige, dieses „Das Leben ist schön!“ so deutlich zu hören oder zu lesen. Aber da ich psychische Probleme an mir selbst und bei vielen in meinem direkten Umfeld erfahren habe, möchte ich eigentlich auch nicht, dass sich irgendjemand anmaßt, ihnen zu sagen, sie sind einfach nur zu negativ und brauchen einen Blickwechsel oder einen Blick in ihr Buch des Bereuens zu werfen. Das vereinfacht die Thematik von Depression, welche den Hauptkonflikt des Buches darstellt, ein wenig zu sehr.

Eine uneingeschränkte Leseempfehlung gibt es von mir leider nicht. Wer jedoch mit dem Thema Depression gut umgehen kann und sich nicht daran stört, dass es eher oberflächlich behandelt wird, und kleine philosophische Einschübe mag, wird an der Lektüre Gefallen finden, schätze ich.