Noch fünf Sterne für eine zweite Chance

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elke seifried Avatar

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„Neunzehn Jahre bevor sie beschloss zu sterben, saß Nora Seed in der warmen kleinen Bibliothek der Hazeldene School in Bedford. Sie saß an einem niedrigen Tisch und starrte auf ein Schachbrett.“

Damit beginnt der Roman und man erfährt, wer Bibliothekarin, Mrs Elm ist und warum sie für Nora in ihrer Schulzeit von Bedeutung war. Bevor man diese dann auf Noras Weg ins Jenseits, auf dem sie eine Zwischenlandung einlegt und es heißt, »Zwischen Leben und Tod liegt eine Bibliothek«, sagte sie. »Und diese Bibliothek besteht aus endlosen Regalen. Jedes Buch bietet dir die Chance, ein anderes Leben auszuprobieren, das dir offengestanden hätte. Jedes Buch bietet dir die Chance, zu sehen, wie alles gekommen wäre, wenn du andere Entscheidungen getroffen hättest… Hättest du irgendetwas anders gemacht, wenn sich ungeschehen machen ließe, was du heute bereust?«, wiedersieht, erfährt man aber erst einmal in groben Zügen und einigen Rückblenden, wie einer Art Countdown, warum Nora versucht, sich umzubringen. Der Bruder hat den Kontakt abgebrochen, niemand ist da zum Reden, die Katze tot am Straßenrand gefunden, die Dinge, die Schatten auf das Leben von Nora, die sowieso schon unter Depressionen leidet, häufen sich. Deshalb, „Es war, fand sie, ein sehr guter Zeitpunkt zum Sterben.“ In der Bibliothek angekommen, muss sie dann schließlich zuerst einen Blick in das Buch des Bereuens werfen und kann dann, immer mutiger werdend, in jedes dieser Leben schlüpfen, das sein hätte können, hätte sie eine andere Abzweigung genommen. Denn jede einzelne Entscheidung, die man trifft, lässt ein anderes Parallel-Leben im Universum entstehen. Noras Begeisterung nimmt immer mehr zu, aber wo ist ihr Platz?

Der lockere, plaudernde, stellenweise aber auch fast schon philosophische Sprachstil des Autors liest sich absolut flüssig. Trotzdem Nora am Boden ist, schafft es Matt Haig, ihre Geschichte zu erzählen, ohne dass man dabei als Leser selbst in schlechte Laune oder in Depressionen verfallen müsste. Man darf sogar immer wieder auch einmal schmunzeln, was mir gut gefallen hat. Zudem gelingt es ihm immer wieder kleine Spannungsspitzen, wie z.B. plötzlich auftretende Fehler im System, einzubauen, die das Wechseln von Leben zu Leben zwischendurch etwas beleben. Da hätten es wegen mir noch ein paar mehr davon sein dürfen, denn die Gefahr einer Länge war an der einen oder anderen Stelle für mich zunehmend greifbar nah. Das Buch des Bereuens steht am Anfang, denn ein Teil des Inhalts dreht sich um Reue und nicht erfüllte Erwartungen, wie einen diese ausbremsen, kleinmachen und deprimieren kann. Dem Autor, der selbst zu genau weiß, was eine Depression ist, gelingt es besonders authentisch und emotional darüber zu schreiben. Ich konnte mich stets ganz wunderbar in Nora hineinversetzen, auch wenn ich sie zunehmend gerne in die richtige Richtung geschubst hätte.

»Wir kennen nur das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Alles, was wir erfahren, ist nur unsere Wahrnehmung. ›Nicht was man betrachtet ist wichtig, sondern was man sieht.‹« »Sie kennen Thoreau?« Gut haben mir auch die vielen philosophischen Zitate gefallen, die in der Geschichte zu finden sind, ebenso wie Lebensratschläge der Art »Vielleicht solltest du aufhören, dich ständig um die Anerkennung anderer Leute zu bemühen…« oder auch »Wer kann das schon wissen? Jeden Tag, jede Sekunde betreten wir ein neues Universum. Und wir vergeuden zu viel Zeit damit, dass wir uns ein anderes Leben wünschen oder dass wir uns mit anderen Leuten oder mit anderen Versionen unserer selbst vergleichen, wo es doch in fast jedem Leben gute und schlechte Zeiten gibt.«, die mich auch immer wieder einmal innehalten und über mein eigenes Leben reflektieren haben lassen.

Nora wird vom Autor perfekt getroffen und er hat sie mit einer sympathischen Art ausgestattet, sodass man sie einfach mögen muss. Besonders gut gefallen hat mir auch Mrs Elm, die Bibliothekarin, der es mit ihren Fragen und guten Ratschlägen, die alle ohne erhobenen Zeigefinger daherkommen. Auch die übrigen Personen, mit denen Nora in ihren verschieden Leben Stunden, Tage oder manchmal auch Wochen verbringt sind alle ebenfalls gut gezeichnet. Authentisch, gegensätzlich, bereichern sie die Geschichte aus jeden Fall.

Mache ich mir vielleicht absolut unnötig Gedanken, andere enttäuscht zu haben, grüble ich viel zu viel, was sein könnte, was sein sollte und wie finde ich meinen Platz im Leben? Das sind einige der Fragen, die in diesem Roman aufgeworfen werden und von einem Autor, der weiß, was eine Depression ist, authentisch und irgendwie reell mit einer komplett erfundenen Geschichte, die der Realität sicher alles andere als nah ist, gelungen aufs Papier gebracht werden. Von mir gibt es da noch fünf Sterne.