Schöner Schreibstil, aber zu viele bequeme Zufälle und einige Klischees

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
viv29 Avatar

Von

Das herrliche Titelbild hat mich sofort angesprochen. Es ist auf positive Weise auffallend und passt hervorragend zur Geschichte, ebenso wie die Übersichtskarte im Buch. Ein echtes Highlight. Auch der Schreibstil ist durchweg erfreulich, ich habe den Umgang mit Sprache genossen. Wir werden sofort in die Atmosphäre auf dem Schiff Champollion hineingezogen, diese ist ausgezeichnet geschildert und ich habe beim Lesen alles vor mir gesehen. Wir lernen den kriegstraumatisierten Theodor Jung kennen, seine Schwiegerfamilie, sowie einige Passagiere – die zuweilen etwas stereotyp wirken – und Angestellte. Eine originelle Note ist die Einbindung Anita Berbers als Nebencharakter. Sie trägt zwar nicht wirklich etwas zur Geschichte bei, sorgt aber hier und da für interessante Skurrilität.
Allerdings dauert dieses Eintauchen und Kennenlernen doch ziemlich lang. Auf den ersten hundert Seiten passiert ausgesprochen wenig, vieles wiederholt sich und die anfänglich durchaus willkommene atmosphärische Gestaltung zieht sich. Auch sonst ist das Erzähltempo überwiegend sehr gemächlich. Das paßt zwar durchaus zu dieser Art Krimi, wird aber für meinen Geschmack doch übertrieben. Ausführliche Beschreibungen diverser Orte und Landausflüge sind zwar an sich gelungen, unterbrechen die Handlung aber doch sehr und werden irgendwann in ihrer Ausführlichkeit zu wiederholend und zu sehr zum Selbstzweck. Las ich die ersten Beschreibungen noch interessiert, begann ich sie irgendwann zu überfliegen.
Die historische Recherche ist fundiert und bemerkenswert. Die Fakten werden manchmal etwas plump und um ihrer selbst willen eingefügt, meistens aber gut in die Geschichte eingeflochten. Hier habe ich viele interessante Einzelheiten erfahren und Zusammenhänge gut erklärt gefunden. Besonders gelungen fand ich die Situation deutscher Passagiere auf einem französischen Schiff im Jahr 1929 – die mehr oder weniger unterschwelligen Ressentiments auf beiden Seiten werden ausgezeichnet geschildert, ebenso wie das Aufkommen der Naziströmungen in Deutschland. Auch die Einbindung von Ringvereinen war ein interessantes Detail.
Der Fall selbst ist verwickelt und hat mich oft auf angenehme Weise rätseln lassen, wie alles zusammenhängt. Das erschließt sich – jedenfalls mir – auch wirklich erst zum Ende hin, was gelungen ist, auch wenn für meinen Geschmack die überraschenden Wendungen und Verwicklungen etwas übertrieben wurden und ich es auch nicht alles glaubhaft oder plausibel fand. Es war in Teilen doch sehr konstruiert und überzeigte mich nicht gänzlich. Ein für mich sehr störendes Manko war allerdings die Tatsache, dass der Protagonist Jung seine Informationen überwiegend durch praktische, zunehmend unwahrscheinliche Zufälle erhält. Jung gelingt es ständig, ganz zufällig genau im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. So hört er gleich mehrere vertrauliche Unterhaltungen mit und ist auch genau dann zur Stelle, wenn die zwei, drei wichtigsten Sätze ausgetauscht werden. Wenn etwas über Bord geworfen oder etwas übergeben wird – also Sekundenvorgänge, die an abgeschiedenen Stellen geschehen – ist Jung ebenfalls immer wieder zufällig genau zur richtigen Zeit da. Ganz gleich, wo es stattfindet, er ist zufällig zur Stelle, selbst wenn es in der 3. Klasse passiert, die er nur selten aufsucht. Ein glücklicher Zufall ist völlig in Ordnung, zwei kann man hinnehmen, bei drei kann man eventuell noch damit argumentieren, dass ein Schiff relativ überschaubar ist, aber wenn es siebenmal, achtmal und noch häufiger vorkommt, dann hat der Autor es sich auf Kosten jeglicher Plausibilität viel zu einfach gemacht und ich fühlte mich als Leser zunehmend auf den Arm genommen. Dieser Aspekt hat mir das Lesevergnügen erheblich beeinträchtigt und mich zunehmend geärgert. Dann greift der Autor noch zu einigen etwas abgegriffenen Versatzstücken, so der aus der Höhe runtergestoßene Felsbrocken, die obligatorische, halbherzig ans Ende angeklebte Liebesgeschichte und die Tatsache, dass alle Komplizen sich am Ende plötzlich entscheiden, dem Protagonisten alle notwendigen Informationen monologartig mitzuteilen. Das las sich nicht nur etwas zäh, sondern ist als Stilmittel ärgerlich und überholt. Hier kam es gleich dreimal vor und war nicht plausibel.
Während das Buch wundervoll anfing und durchweg durch Schreibstil und Atmosphäre zu überzeugen wusste, fand ich die Konzeption mit ihren ständigen bequemen Zufällen und Krimi-Versatzstücken wenig erfreulich.