Überschreitet Genregrenzen

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"Wir sind alle im Eis des Nordpols geboren, wir hassen das Eis, aber so viel Aufwand wir auch treiben, wir kommen doch nicht weg."


Raeseng ist ein 32-jähriger Auftragskiller mit 15 Jahren Berufserfahrung. Aufgewachsen ist er bei Killerboss Old Raccoon in einer verlassenen Bibliothek, nachdem er in der Mülltonne vor einem Kloster gefunden wurde. Als er nun einen Auftrag nicht genauso ausführt wie angeordnet, gerät er selbst ins Visier der Killerelite.

Meine Güte, was für ein Cover! Eine weiße Dahlie prangt vor schwarzem Hintergrund, perfekt symmetrisch. Darüber: Blutspritzer. Und diese ziehen sich auch über den Buchschnitt. Das Buch zieht im Zug eindeutig merkwürdige Blicke auf sich. THRILLER prangt da außerdem dick auf dem Cover. Doch schon die Leseprobe zeigte mir, dass es sich hier keinesfalls um den genretypischen Protothriller handelt. Sonst hätte ich das Buch auch gar nicht lesen wollen.

Asiatische Autoren sind dafür bekannt, immer wieder Genregrenzen zu erweitern und neu zu definieren. Dass das meistens nicht die ganz großen Kassenschlager werden, ist klar. Dafür ist der amerikanisch-britische Splatter- und der (langsam auch abgenutzte) skandinavische Krimimarkt zu groß. Wer allerdings große Literatur in diesem Bereich sucht, der greife am besten zum Koreaner Un-su Kim.

In der Welt, die Kim erschafft, ist Verbrechen die Normalität, nicht die Ausnahme. Jeder ist darin verwickelt, selbst die einfache Hausfrau engagiert Auftragskiller, um den ungeliebten Ehemann loszuwerden. Die Killer und Drahtzieher brauchen Recht und Ordnung nicht zu fürchten - mit Geld lässt sich alles lösen, denn der Fleischmarkt ist der kapitalistischste Markt der Welt. Nur aus den eigenen Reihen droht ständig Gefahr, denn in dem undurchdringlichen Netz dieser Geschäftswelt bleibt niemand lange am Leben. Raeseng muss das am eigenen Leib erfahren, als er an die erste Stelle der Todesliste rückt.

In Kims Roman spielt sich ein entscheidender Teil der Handlung irgendwo hinter den Kulissen ab. Wir bewegen uns mit Raeseng lediglich auf der Ebene der Killer - sie führen nur aus, wissen aber nichts und hinterfragen auch niemals. Woher kommen die Aufträge, wer steckt dahinter? Das wird einmal eindrucksvoll beschrieben als "leerer Stuhl an der Spitze" - das System trägt sich selbst, ohne einen allwissenden, allmächtigen Koordinator. Und das macht es so verdammt schwierig, das zu durchschauen.

Ein eiskalter Hauch weht durch den Roman, der mit einem äußerst ungewöhnlichen Setting beginnt - der Auftragskiller isst mit seinem Opfer zu Abend und genießt dessen Gastfreundschaft, bevor er ihn erschießt. Generell sind diese Killer alle sehr höflich zueinander, wie es sich in Korea eben gehört. Deshalb gibt es keine hektischen Kampfszenen oder rohe Gewaltexplosionen. Alles läuft routiniert, ruhig und geregelt ab - ein wenig wie im Tiefkühlfroster. Das Buch lebt neben diesen schockierend klaren, dabei aber reichlich wenig ekelerregenden Gewaltszenen, ausschließlich von extrem ausgefeilten Dialogen, die die Gedankenwelt der Protagonisten offenlegen und denen es nicht an philosophischer und psychologischer Tiefe mangelt. Wann findet man so etwas schon in einem Thriller?

Was Un-su Kim letztendlich mit seinem Buch aussagen will, bleibt irgendwie unklar. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf? Wir leben in einer Welt ohne Werte? Jedenfalls gelingt es ihm meisterhaft, diese Welt aus Verbrechen und Verschwörungen plausibel zu machen - vielleicht, weil das gar nicht so abwegig ist? Ein Genuss für alle, die gute Literatur mögen - für eingefleischte Thrillerfans vielleicht eher eine Enttäuschung.