Ausbaufähige, aber wunderschön illustrierte Gruselgeschichte

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hundenaerrin Avatar

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Es trifft sie wie ein Schock: Die Eltern der Geschwister Roberta, Petronella und Pellegrino Polidori sind bei einer Expedition im Atlantik verschollen. Sie werden von nun an bei den Großeltern in Ostfriesland leben, in einem windschiefen Haus mit Zaun aus Walknochen. Doch das ist nicht das einzig Kuriose am „Polidorium“: Sie teilen ihr Heim mit Geistern, wandernden Wänden, einem Bestattungsinstitut im Keller und zwei gewöhnungsbedürftigen Großeltern. Und auch die neue Schule stellt die Geschwister vor Herausforderungen, denn sie sind sogleich als schräge Außenseiter verschrien. Sogar ihre Mitschüler wissen, dass im Polidorium nicht alles mit rechten Dingen vor sich geht. Doch die Polidoris sehen nur ihren Ehrgeiz geweckt und wollen den Geheimnissen auf den Grund gehen – denn davon gibt es in diesem kleinen ostfriesischen Dorf genug…
Das Positive zuerst: Dem Coppenrath Verlag ist illustratorisch wieder einmal ein Meisterwerk gelungen. Verena Wugeditsch versteht es hervorragend, die Atmosphäre und die Figuren grafisch einzufangen. Die reinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind ebenso geheimnisvoll und teilweise gruselig, wie das Polidorium selbst, und doch weisen sie eine Ausdrucksstärke auf, die mir persönlich die Figuren näher gebracht hat, als es der Text vermochte.
Womit ich leider auch schon zur Auflistung der Aspekte komme, die mich nachdenklich zurückgelassen haben:
Das Buch ist in drei Abschnitte eingeteilt: 1. Das Geheimnis um das Polidorium und seine Bewohner, 2. die Erlebnisse der Geschwister Polidori und 3. Marie-Hedwigs Geheimnis. Zwischen den Abschnitte vollzieht sich ein Zeitsprung, der für mich nicht nachvollziehbar ist und die Erzählung auf gewisse Weise unterbricht und die Kontinuität zerreißt. Denn es handelt sich nicht um abgeschlossene Sequenzen, sondern die Handlung vollzieht sich in mehreren parallelen Erzählsträngen über die Abschnittsgrenzen hinaus. Diese Fülle an einzelnen Geschichten fügt sich nur langsam zu einem großen roten Faden zusammen, erschwert wurde das Verständnis und das Verfolgen eben dieser einzelnen Stränge zudem durch die teilweise recht große Länge der Kapitel. Desweiteren taten sich Leerstellen auf, die mich sehr irritierten und wirklich auch störten: Warum wird nicht weiter nach den Eltern gesucht bzw. warum erfahren wir nicht mehr darüber? Ist es nicht normal, dass Kinder die Hoffnung nicht aufgeben und nachfragen? Fragt sich niemand, wohin Hein so manches Mal verschwindet? Warum er nie die Kleidung wechselt? Und wieso zum Klabautermann macht sich niemand, besonders nicht die Großeltern, Gedanken über den Aufenthaltsort von Hodder Morkel? Warum wird ein Gespräch Pellegrinos mit dem Neunauge kurz angedeutet, aber nicht weiter verfolgt? Stattdessen verblasst Pellegrino in der Erzählung bis kurz vor Ende zu einer Schattenfigur. Für mich erschien die Geschichte dadurch sehr unrund und ich verlor hin und wieder die Motivation, überhaupt weiterzulesen.
Die Figuren sind sehr individuell gestaltet, aber besonders Pellegrino, die Großeltern, aber auch Petronella blieben mir verschlossen, zu ihnen konnte ich keine Verbindung aufbauen, da mir ihre Emotionen zu fremd waren. Einzig Roberta konnte meine Sympathien gewinnen. Sie erscheint mir das Herz der Familie zu sein, ihr Verantwortungsbewusstsein und Tatendrang waren authentisch dargestellt.
Die häufigen Perspektivwechsel empfand ich als etwas anstrengend, was aber durchaus auch mit den Antipathien gegenüber den meisten Figuren zu erklären ist.
Ist es nur meine Perspektive als erwachsener Leser? Vielleicht. Dennoch finde ich, dass die Lektüre eher für ältere, unerschrockene Kinder ab ca. zehn Jahren geeignet ist. Einige Sequenzen sind recht gruselig, die Kapitel sind lang, sodass man einen langen Atem haben sollte, und die Thematik des Buches ist nichts für Zartbesaitete: Abschied, Verlust, Außenseitertum, Tod – für einige Kinder gibt es bei der Lektüre sicher Redebedarf. Bei recht sensiblen Kindern empfehle ich nur die gemeinsame Lektüre mit Eltern.