Psychologisch raffiniert

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Japans Antwort auf Agatha Christie“, schrieb der Guardian, und das völlig zu Recht. Wer die Detektivgeschichten der Queen of Crime liebt, wird sich ebenso freuen, Bekanntschaft mit Privatermittler Kosuke Kindaichi zu schließen. Zumal dies eine Langzeitbeziehung werden könnte, denn sein Schöpfer Seishi Yokomizo (1902-1981) war nicht nur ein Zeitgenosse Agatha Christies, sondern auch genauso produktiv. Allein 77 Fälle gab er seinem leicht stotternden, aber selbstbewussten Detektiv zu knacken, nun haben die @aufbau_verlage (Blumenbar) den ersten Band auf Deutsch herausgebracht, ganz wunderbar im Ton der Zeit übersetzt von Ursula Gräfe.

Zum Inhalt: Winter 1937. Im Honjin der wohlhabenden Familie Ichiyanagi werden bald die Hochzeitsglocken läuten. Der unnahbar wirkende älteste Sohn hat eine Braut gewählt, und ganz Okamura ergeht sich aufgekratzt in Klatsch und Tratsch. Doch auf das große Fest folgt noch größeres Entsetzen. In der Hochzeitnacht weckt ein Schrei die Familie, die kurz darauf das Brautpaar brutal erdolcht vorfindet. Die Tatwaffe, ein blutiges Samurai-Schwert, steckt im frisch gefallenen Schnee vor den verschlossenen Fenstern des Schlafgemachs. Dass auch dieses verschlossen und die örtliche Polizei entsprechend überfordert ist, muss vermutlich nicht erwähnt werden…
Ein klassisches locked-door-mystery also, an dem sich der Autor gleich in seinem ersten und später preisgekrönten Kriminalroman versucht. Geschickt legt er falsche Fährten, streut Zweifel, fordert zum Miträtseln heraus. Um es vorweg zu nehmen: ich lag komplett falsch und war am Ende angenehm überrascht von der psychologisch raffiniert konstruierten Handlung und ihrer absolut schlüssigen Auflösung. Nebenbei gibt es mit dem fernöstlichen Setting auch etwas über die japanische Kultur zu lernen, nicht zuletzt steuert diese auch das Gruselelement bei: Bei jedem Mord - es bleibt nicht bei den beiden Toten - hören die Zeugen den Klang einer Koto…

Der Schreibstil mit seiner gepflegten Wortwahl entspricht dem der 1940er Jahre, Ursula Gräfe hat dem ruhigen Erzählduktus behutsam in unsere Zeit geholfen, ohne ihn alt aussehen zu lassen. Überhaupt hat die Geschichte mit etwa 200 Buchseiten und viereinhalb Hörstunden genau die richtige Länge für einen unterhaltsam-verregneten Herbstnachmittag…
Den größten Teil habe ich als Audiobook genossen, was nicht zuletzt an der gemessen-geheimnisvollen Lesart von Denis Moschitto lag, der ich sehr gern gelauscht habe. Außerdem weiß ich nun, wie bestimmte japanische Wörter und Namen , z.B. Tatami oder Suzuki, richtig betont werden. Letzteres erfordert aber auch eine gewisse Konzentration, um der Geschichte mit Genuss zu folgen. Es gibt viele handelnde Personen mit (zumindest für mich) ähnlich klingenden Namen. Wer wie ich also eher der „optische Typ“ ist, der greife lieber zum Buch und seinen hoffentlich zahlreichen Folgebänden.
Leseempfehlung!