Bislang DAS Buch in 2018

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
piratenbraut Avatar

Von

Ein Gewinn von Vorablesen. Den Einstieg zu finden in die Leseprobe war gar nicht so leicht, aber dann konnte mich der Text dennoch begeistern. Und was bin ich froh, dass ich auf "ja, ich will ein Rezensionsexemplar gewinnen" geklickt habe. Denn nach dem Lesen kann ich sagen, dass das hier mein Lesehighlight 2018 ist. Bislang. Da kann natürlich noch was kommen, aber das Buch hier steht auf jeden Fall schon mal ganz weit oben auf meiner persönlichen Buchliste 2018.
Bei dem Titel und auch bei der Zusammenfassung habe ich sofort an einen Erotikroman gedacht. Tatsächlich ist das Buch sehr sinnlich, allerdings nur sehr partiell auf der sexuellen Ebene. Viel mehr werden alle Sinne des Lesers angesprochen. Nina George ist eine Meisterin ihres Fachs. Schreibt sie vom Essen, schmeckt und riecht man den Käse, den Wein, den Fisch auf der Zunge. Schreibt sie vom Meer, dann hört man das Rauschen der Wellen und das Tosen des Windes und riecht die salzige Meeresluft. Schreibt sie von der Bretagne, dann sieht man den unberührten Strand und die kleinen, liebevoll dekorierten Fachwerkhäuser vor seinem geistigen Auge. Schreibt sie von körperlicher Leidenschaft oder vom sehnlichen Wunsch nach Freiheit, dann spürt man die Berührungen und das Ziehen im Bauch.

"Ich habe noch nie so viele Sterne gesehen. Noch nie. Es gibt so viele "noch nie" in meinem Leben. So viele Möglichkeiten, die ich nicht sehe oder noch nicht gesehen habe."

Selten habe ich mich als Frau so sehr verstanden gefühlt, wie nach diesem Buch. Und ich glaube, man kann das auch ruhig auf die männlichen Leser ausweiten, die werden sich ebenso verstanden fühlen. Die Bandbreite der menschlichen Gefühlswelt, die hier aufgefahren wird, erschlägt einen beim Lesen regelrecht. Und dennoch dachte ich permanent "Ja! JAA! Genau so ist es, genau so fühle ich auch oft!".


>Sie wollte sich nicht fragen müssen, ob sie schön genug war, um schwimmen zu gehen, so wie Anaëlle, die sich stundenlang im Bikini oder Einteiler betrachtete, bevor sie es wagte, aus dem Haus zu gehen - das erschien Claire im höchsten Maße unlogisch und ressourcenverschwendend. Zudem sie sich nicht schön fand, damals nicht und heute nur selten. Nicht schön im Sinne der Ideale, nicht schön wenn sie an sich dachte, im Prinzip verband sie Schönheit nicht mit ihrer Person, sondern mit Eigenschaften, mit Seide, mit ihrer Schwester oder mit filigranen Zuständen von Glück und Leichtigkeit. Sie sah in den Spiegel und dachte: gut kaschiert. Oder: erträglich. Oder: heute gar nicht schlimm. Und ganz selten: Ich mag, was ich sehe.
Es ist, als ob die Schönheit, die sich selbst anerkennt, erst bei der Liebe erwacht, eine weitere Ungerechtigkeit - oder Dummheit, weil nur der ausführlich berührte Körper aufhört, daran zu zweifeln, ob er schön genug ist, um berührt zu werden, und beginnt zu strahlen. <


Dieses Buch beschreibt die fast unstillbare Sehnsucht nach Leben. Nach ausgefülltem Leben. Und auch die große Angst vor genau diesem. Und es beschreibt die unglaubliche Bandbreite der Liebe. Wie man sich trotz Liebe einsam fühlen kann oder besonders mit ihr. Wie man jemanden so sehr lieben kann, dass man Angst bekommt vor demjenigen. Und vor sich selbst.


>Du Klägliche. Wolltest immer jemand werden, hast immer darauf geachtet, nie laut zu sein, nie wütend, nie eine von denen, die sich überfahren lassen von Gefühlen. Alles schön abgekühlt. Trinkfertig. Frau Zimmerlautstärke. Bist nie nachts aus Bars gekrochen, warst zu selten im Kino, hast gelernt und gelernt und zu wenig Romane gelesen, zu selten getanzt, obgleich es dich durchströmte zu tanzen, zu trinken, zu weinen im Angesicht von hochnotpeinlicher Romantik. Du wolltest Kunst machen, du wolltest das Harte in das Weiche biegen. Aber stattdessen hast du das Weiche in das Harte gegossen. Immer schaffen, etwas schaffen, dachtest du, dass du Frieden findest? Dass du es dir verdienen musst, das Kino, die Cocktails, die Freundinnen?
Ja!
Was dachtest du? Musst du leisten, um endlich zu dürfen?<


Das Buch ist echt nichts zum nebenher lesen, dafür stecken zu viele kluge Gedanken und Lebensweisheit darin. Aber es war nie so, dass ich nicht mehr verstehen konnte, was die Autorin mir sagen will oder wo die Geschichte grade hingeht. (Nichts nervt mich mehr, als ein Text, der anspruchsvoller geschrieben wurde, als er sein müsste und ich mich als Leserin doof fühle.)
Und dann dieses wunderbare Nachwort. Wisst ihr, es ist klar, dass ein Autor am Ende seinen Helfern danken möchte und das ist auch richtig so. Aber die Nachworte, in denen man auch davon ab etwas über die Intention des Autors erfährt, dieses Buch, diese Geschichte aufzuschreiben, wie der Prozess war und und und....die sind viel zu selten geworden! Dadurch kommt man der Geschichte als Leser doch viel näher. Und so lesen auch mal andere das Nachwort, nicht nur denen, die erwarten, dass sie dort erwähnt werden ;) (Deswegen mag ich auch die Briefe der Autoren in meinen Owlcrate Boxen so gerne!)

Ich werde noch lange und oft von diesem wunderbaren Roman zehren!

Titel und Cover: Auch hier herrscht bei mir nur Begeisterung. Der Titel klingt sehr poetisch und passt auch wunderbar zur Geschichte, denn vieles spielt sich nachts ab. Gespräche, Gedankenströme, Sex. Und das Coverbild gefällt mir genau so gut. Man sieht nichts, außer den Nacken einer Frau und dennoch ist das Bild erotisch und sinnlich. Die zur Seite gestrichenen Haare, der ganz leicht geöffnete Reißverschluss. Es ist schon fast verheißungsvoll. Großartiges Gesamtwerk!