Tiefe Zerrissenheit

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cara_11 Avatar

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Schonungslos und doch poetisch führt uns Nina George die tiefe innere Zerrissenheit der in Paris lebenden Verhaltensforscherin Claire vor Augen.
Claire, zutiefst emotional und auch mit Mitte 40 höchst anziehend, dabei rational sich selbst analysierend, weiß, dass ihr Mann Gilles, Musiker mit unterschiedlich erfolgreichen Phasen sie seit Jahren betrügt und findet ebenso in wahllos aus Cafes ausgewählten "one-day-stands" eine Ablenkung. Dabei sind ihr die Augen ihres Gegenübers besonders wichtig, da Gilles in Nahesituationen die Gewohnheit hat, seine Augen zu verschließen. Dennoch würde ein Außenstehender die Risse in der Beziehung von Claire und Gilles nicht bemerken, da routinierte Gesten und der Austausch von jahrelang beibehaltenen Zitaten aus Filmen eine Intimität schaffen, die nicht durchschaubar erscheint. Doch als Claire ihren Talisman bei einer ihrer Hotelbegegnungen verliert und dabei einer jungen Frau, Julie, begegnet, die sich später als neue Gefährtin ihres Sohns herausstellt, gerät das fragile Seelengleichgewicht Claires ins Schwanken. Julie, die junge Frau, die offenbar selbst noch nicht ihren Platz im Leben gefunden hat und ein besonderes Gespür für Claire entwickelt, begleitet Claires Familie in den Urlaub, und mehr und mehr treten die Risse in Claire und in ihrer Beziehung zu Gilles zutage. Claire offenbart ihre zutiefst Zerrissenheit, zu jung zur Mutter geworden empfindet sie sich im Familienkreis inzwischen als zunehmend neutral wahrgenommenes Wesen, DAS Mutter, für das sie sich selbst jung fühlt. Und sie hat Angst, dass Julie sich mit einer zu frühen Bindung ebenso die Freiheiten nimmt, die sie selbst in der Vorstellung Julies zu haben scheint. Ein Heiratsantrag von Claires Sohn eskaliert in der Trennung von Julie und Claires Trennung von Gilles. Doch auch die Freundschaft von Claire und Julie ist auf brüchigem Fels erbaut. Vor einer unfassbar schönen Kulisse werden Gefühle rasiermesserscharf seziert und analysiert, und immer öfter ertappt sich die Leserin/der Leser, mit großer Betroffenheit die Gefühle Claires nicht nur zu verstehen, sondern auch Parallelen zum eigenen Leben zu ziehen. Wie von Nina George gewohnt kleidet sich der Zerfall der Beziehungen in eine schmeichelhaft schöne Sprache, die die größte Betroffenheit durch wunderbare Redewendungen abfedert und beinahe auf jeder Seite ein bemerkenswertes Zitat zutage treten lässt. Zerrissen, betroffen, und doch wunderbar getröstet durch die Gewissheit, dass jeder den Weg selbst gewählt hat und frei entscheidet, schließt man bewegt und nachdenklich das Buch.