Leben zwischen zwei Welten

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buecherfan.wit Avatar

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In seinem neuen Roman erzählt Yasmina Khadra die Lebensgeschichte von Younes. Younes lebt mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester in ärmlichen Verhältnissen in einem algerischen Dorf. Die Familie ist hoch verschuldet. Durch die Missgunst und Habgier ihrer Mitmenschen verlieren sie ihr Land gerade in dem Augenblick, als sich durch eine gute Ernte eine Wendung abzeichnet: jemand legt Feuer in den Feldern. Die Familie zieht in ein Elendsviertel in Oran. Der Vater ist zu stolz, um sich von seinem Bruder Mahi, einem Apotheker, der mit einer Französin verheiratet ist, helfen zu lassen. Als er um seine Ersparnisse betrogen wird, gibt er auf. Younes lebt von da an unter dem neuen Namen Jonas in gesicherten Verhältnissen bei seinem Onkel und seiner Tante, deren Ehe kinderlos geblieben ist, erhält eine gute Schulbildung und wird ebenfalls Apotheker. Weil der Onkel durch seine nationalistischen Ideen und politischen Kontakte Schwierigkeiten bekommen hat, ist die Familie inzwischen in die Kleinstadt Rio Salado umgezogen. Weite Teile des Romans beschreiben Kindheit und Jugend von Jonas, seine enge Freundschaft zu drei französischstämmigen Jugendlichen namens Fabrice, Jean-Christophe und Simon. Alle vier verlieben sich in die schöne Französin Emilie, die Jonas schon als Dreizehnjähriger in der Apotheke seines Onkels kennengelernt hat. Emilie ist zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Sie wird die Liebe seines Lebens, und sie liebt ihn ebenfalls. Dennoch bleibt diese Liebe unerfüllt. Jonas fühlt sich an den ihrer Mutter gegebenen Schwur gebunden und weist sie immer wieder zurück.

Erzählt wird die Geschichte von dem etwa 80jährigen Jonas, der auf sein Leben zurückblickt. Die überlebenden Freunde kommen nach fast einem halben Jahrhundert noch einmal bei Emilies Beerdigung zusammen . Es ist ein emotionsgeladenes Wiedersehen, bei dem auch alte Konflikte und Spannungen aus dem Weg geräumt werden. Am Ende steht die Versöhnung.

Versöhnung ist das große Thema, das nicht nur in der Geschichte von Liebe und Freundschaft zum Tragen kommt, sondern auch ein wichtiges Anliegen des Autors in Bezug auf seine Heimat Algerien ist. Younes/Jonas ist hin und hergerissen zwischen zwei Welten, und im Laufe seines Lebens steht er immer wieder vor der Entscheidung, sich zu der einen oder anderen zu bekennen: zu seiner arabischen Herkunft oder zur französischen Kolonialmacht, die sein Volk unterdrückt und ausbeutet. Der Roman schildert die politischen und sozialen Verhältnisse von 1930 bis 1960, den Algerienkrieg (1954-1962) und die Zeit nach der Erlangung der Unabhängigkeit. Dabei setzt der Autor eine Menge Kenntnisse voraus. Das ist für französische Leser kein Problem, denn diese Epoche ist für sie durchaus präsent, auch wenn oder vielleicht gerade weil die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und des von beiden Seiten mit unvorstellbarer Grausamkeit geführten Krieges erst Jahrzehnte später begonnen hat. Für deutsche Leser ist das schwieriger. Von daher hätte man sich gewünscht, dass die Übersetzerin durch Fußnoten oder einen Anhang die historischen Ereignisse und Begriffe erklärt, die für den deutschen Durchschnittsleser nicht ohne weiteres verständlich sind, z.B. Maquisarden oder Harkis. Viele deutsche Leser werden nicht wissen, wieso die Harkis als Verräter an ihren eigenen Leuten betrachtet wurden. (Die Harkis waren muslimische Soldaten, die in der französischen Armee dienten, als Verräter und Kollaborateure betrachtet und nach der Unabhängigkeit zu Zehntausenden ermordet wurden). Auch Kürzel wie FLN und OAS hätten gut noch etwas deutlichere Erläuterungen vertragen können. Dennoch ist dem Autor ein sehr eindrucksvoller Roman gelungen, der ein privates Schicksal in den historischen Kontext einordnet - für viele deutsche Leser vielleicht die erste Begegnung mit Algerien als Schauplatz. Khadra überzeugt wie in all seinen Romanen durch seine wunderbare poetische Sprache, die auch in der Übersetzung ihre Wirkung entfaltet - alles in allem ein wunderschönes Buch.

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