Wir sind alle Geiseln unserer Erinnerung

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„Wer die schönste Geschichte seines Lebens verpasst, wird allein mit seiner Reue altern, und alles Seufzen wird seiner Seele keine Wiege sein…“ Einer der Sätze, die der Onkel des Erzählers hinterlässt. Und tatsächlich wird diese verpasste „schönste Geschichte seines Lebens“ ihn bis ins hohe Alter verfolgen. „War ich danach jemals glücklich gewesen? Ich glaube ja. Ich habe unvergessliche Momente und Freuden erlebt, habe wieder geliebt und geträumt, in mitunter kindlichem Überschwang. Dennoch kam es mir immer so vor, als ob in meinem Puzzle ein Teil fehlte, etwas nicht wirklich an seinem Platz war, als ob irgendwo ein Vakuum wäre, etwas mich gleichsam verstümmelte: kurz, als wäre ich nur auf der äußeren Umlaufbahn des Glücks unterwegs.“

Diese verpasste Geschichte ist natürlich eine Liebesgeschichte. Der Erzähler Younes wächst im Algerien der 30er Jahre auf. Als er neun Jahre alt ist, verliert der Vater nach einem verheerenden Feuer auf seinen Feldern seinen gesamten Besitz und zieht mit Frau, Sohn und Tochter in die Stadt Oran, um hier ein neues Leben zu beginnen. Aber die Zeiten sind schlecht, zu vielen Menschen erging es ähnlich und die Stadt wimmelt von Arbeitsuchenden, Bettlern, Verzweifelten. Ein extremer Ehrbegriff veranlasst den Vater, die von seinem vermögenden Bruder angebotene Hilfe auszuschlagen. Das Elend seiner Familie, besonders seiner Frau und Tochter scheint ihn dabei kaum zu kümmern. Er wird es schaffen, davon ist er überzeugt. Erst als ihm alle Ersparnisse von einem Banditen aus der Nachbarschaft geraubt werden und er diesen aus Rache tötet, bringt er seinen Sohn in die Obhut seines Bruders. Nun erfährt man auch warum er sich so erbittert gegen dessen Hilfe wehrt: Der Onkel ist Apotheker, hat wegen der Studien den heimischen Hof verlassen und eine Französin, eine Christin, geheiratet. Er gilt dem Vater als Verräter. Younes nun lebt sich sehr gut in seiner neuen Familie ein, besonders seine Tante Germaine begegnet ihm mit viel Liebe. Auch Freunde findet er sehr bald unter den sogenannten pied-noirs, den französisch stämmigen Algeriern. Besonders mit Jean-Christophe, Simon und Fabrice verbindet ihn eine Freundschaft, die bis in die Mannesjahre hineinreicht. Faszinierend ist das weltläufige, freie Leben, das diese wohlhabenden jungen Menschen führen. Das Elend großer Teile der arabischen Bevölkerung nimmt man nur am Rande wahr, etwa als Younes einem Diener seines Freundes beisteht, der diesen fast wie einen Sklaven behandelt. Getrübt wird die Freundschaft ein erstes Mal, als die schöne Émilie auftaucht, in die sich alle verlieben, die aber gerade Younes ausgewählt hat, der diese Liebe zwar erwidert, sie aber aus einem überzogenen Ehrgefühl heraus (Erbe der väterlichen Erziehung) von sich weist. Diese heiratet schließlich Simon, aber weder Younes noch sie kommen jemals ganz voneinander los.

1954 bricht der Algerienkrieg aus. Sowohl Befreiungsbewegung als auch französische Armee gehen mit unglaublicher Brutalität gegeneinander vor. Terror und Folter herrschen. Auch die Freunde erfasst der Strudel der Ereignisse: Simon wird ermordet, Jean-Christophe tritt in die Armee ein, Younes entkommt der Verhaftung und Folter nur durch Fürsprache einflussreicher Freunde. Die sorglosen Tage am Meer sind endgültig vorbei. Mit Ausrufung der Republik fliehen die meisten pied-noirs  nach Frankreich, so auch Émilie.

Fünfzig Jahre später treffen sich die alten Freunde anlässlich Émilies Beerdigung in Aix-en-Provence. Sie alle sind, wie es im Roman heißt „Geiseln ihrer Erinnerung“. Younes, der in Algerien zurück blieb, trauert seinen verlorenen Freunden und seiner großen Liebe, seiner „verpassten Geschichte“ hinterher, die anderen haben nie den Verlust ihrer Heimat verwunden.

Die Geschichte wird im Rückblick vom alten Younes erzählt. Der Ton ist elegisch, melancholisch, wehmütig. Es ist eine Geschichte der Verluste, der „verpassten Geschichten“. Und zwar nicht nur die der nie gelebten Liebe zwischen Younes und Émilie, sondern auch die des gescheiterten Miteinanders von Franzosen und Algeriern, die in einem unglaublichen Blutbad endete.

Ein schönes, empfehlenswertes Buch!