Was heißt schon normal?

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hasirasi2 Avatar

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Diese Buch hätte ich höchstwahrscheinlich auch in einem Buchladen zur Hand genommen, da ich das Cover so schön finde. Es besticht durch seine verschiedenen Blau-Grün-Töne. Die dargestellten Formen könnten Wiesen, Berge oder auch das Meer sein. Im Vordergrund sind 2 Menschen abgebildet, ein Mann und eine Frau, dazu ein Haus/Heim und Schmetterlinge (als Synonym für die Freiheit oder für die Schmetterlinge im Bauch?).
Auch die Haptik des Buches ist wunderschön: der raue Karton und der Prägedruck sorgen dafür, dass es sehr gut in der Hand liegt. Dass die geprägten Teile glatt sind, ergibt einen interessanten Kontrast beim Anfassen.
Es ist alles irgendwie anders, nicht das typische Hochglanz-Produkt und gerade dadurch auffällig unauffällig schön.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Spruch des Tages und einem Tagesgericht. Für letzteres gibt es am Ende des Kapitels dann sogar noch das Rezept. Allein von dem Genuss des Romans nimmt man 20 kg zu!!!

Nellys Tag fängt eigentlich normal an. Sie bereitet zusammen mit ihrem indischen Nachbarn und Angestellten Ashok das Essen für ihren Food-Truck vor (hier läuft einem zum ersten Mal das Wasser im Mund zusammen) und fährt zu ihrem Stammplatz – nur leider ist die Konkurrenz vor ihr da und die Leute kaufen nicht bei ihr. Dann ruft auch noch ihre Mutter an und sagt ihr, dass sie mit einem angebrochenen Wirbel im Krankenhaus liegt und Nelly sich jetzt kümmern muss – um ihren 10 Jahre älteren autistischen Bruder Nils. Nelly hat seit Jahren befürchtet, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, aber doch bitte nicht schon jetzt?! Ihre Mutter ist erst knapp über 70 und bisher immer topfit gewesen. Nelly hat „das Problem Nils“ über Jahre erfolgreich verdrängt und nun holt es sie mit aller Macht ein.

Also fährt sie von ihrer Heimatstadt Hamburg in den Hintertaunus. Ihr Dorf hat nur 1000 Einwohner, jeder kennt jeden und jeder kennt Nils. Trotzdem hatte er nie Freunde, er war nie normal und ist immer ein Kind geblieben – und die ganzen Jahre hat sich nur „Mutti“ um ihn gekümmert. Es ist spät abends als sie endlich ankommt und die Anwohner schließen die Rollläden. "Rollläden, die sich schlossen, waren wie Leben, das man aussperrte, Welt, die draußen bleiben musste."
So ruhig ihr Bruder immer war, sie aktiv war sie. Ein „Jungsmädchen“, Hosen statt Röcke, immer in Bewegung, immer auf der Flucht. Mit 18 zog sie von zu Hause weg, hatte nie längere Beziehungen, weil sie gern allein ist und sich ungern festlegen will. Nelly lebt nach ihrem eigenen Rhythmus. "Ich taugte nicht zum Tandem. Ich war ein Einspänner."

Da sie auf die Schnelle keine Lösung (Unterbringung) für Nils finden kann und das Geschäft in Hamburg immer schlechter läuft, nimmt sie ihn kurzerhand mit. Aber Nils träumt vom Meer und der Reise nach England, zur lange geplanten Hochzeit seines Cousins. Nelly gibt nach und die Reise beginnt: „Ich musste mich daran gewöhnen, auf der falschen Seite Auto zu fahren. Die ganze Zeit wurde ich das Gefühl nicht los, dass die Welt auf dem Kopf stand. Und das galt nicht nur für Abbiegen und Kreisverkehr. Ich erlebte das gespiegelte Gegenteil von allem, was ich kannte. Dass mir immer wieder die Mittellinie aus dem Blickfeld rutschte, war ein weiteres Indiz dafür. Längst war ich Passagier auf einer ganz unglaublichen Reise, die mich weiterführen würde, viel weiter als bis hierher ...“

Ich bin total in diesem Buch versunken. Es ist schön, lustig ohne banal zu sein, tiefgründig, lässt mich wehmütig werden.

Nellys Reise führt sie in ihre Vergangenheit und gleichzeitig Zukunft. Denn irgendwann wird sie sich dauerhaft um Nils kümmern müssen, das jetzt ist nur der Probelauf. Zu Beginn schämt sie sich immer wieder für ihn und seine Behinderung. Sie redet über ihn, als würde er es nicht verstehen und beantwortet auch Fragen über ihn nur ausweichend. Aber nach und nach taut Nelly auf und merkt, dass die meisten Menschen, denen sie auf dieser Reise begegnen, es gut mit ihnen meinen. Und sie erfährt sehr viel über ihre Gegenüber, wenn sie sie im Umgang mit Nils beobachtet. Die meisten sind sehr rücksichtsvoll und benehmen sich völlig normal, wie z.B. die Braut: "Sie wusste, wieviel Dunkelheit es gab und sie war der Typ, der tapfer Kerzen anzündet."

Mein liebster „Nebendarsteller“ des Buches ist Ashok. Ich mag ihn, ich liebe ihn, denn er ist so herrlich geerdet. Egal was passiert, er hat zu jeder Situation das in seinen Augen passende Sprichwort – sie harmonieren perfekt miteinander und er bringt sie dazu, loszulassen und nicht immer alles so eng zu sehen.

Am Ende merkt Nelly, dass sie nicht normaler ist als Nils, ihre Normalität ist nur eine andere.