Herausfordernde Lektüre

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tsubame Avatar

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"In seiner Heimat Sri Lanka gebe es die Haltung, besser nicht in den Wunden zu bohren. Deshalb ist Booker-Preisträger Shehan Karunatilaka beeindruckt von Deutschlands Aufarbeitung der Vergangenheit" kann man in einem Artikel des Tagesspiegel lesen.

Vielleicht erklärt das ja die ungewohnte Erzählweise des Buches, indem es nicht so sehr darum geht, die Ereignisse des Bürgerkriegs in Sri Lanka chronologisch aufzuarbeiten, sondern den Fokus auf den jahrelangen Schrecken zu legen, mit seinen Todesschwadronen, Massakern, Vermissten, Bombenanschlägen und mehr. Vielleicht erklärt das auch die starke Einbeziehung der mythologischen Welt Sri Lankas, in der es Ghouls, Geister und Dämonen gibt. Die Bestien sind alle menschlicher Natur und setzen sich aus einem Minister, einem Major und der "Maske" zusammen, einem liebenden Vater dreier Kinder, der als Folterer Tausender im Personal aufgeführt ist. (Hier wäre es interessant gewesen, zu erfahren, ob es ihn tatsächlich gegeben hat.)

Es ist eine verwirrende Welt, in die der/die Leser(in) eintaucht, denn schon zu Beginn des Romans ist die eigentliche Hauptperson Maali Almeida, ein homosexueller Fotograf, tot. Verwirrt und orientierungslos findet er sich mit vielen anderen Toten in einer Art Behörde wieder, wo man ihm ein Formular in die Hand drückt und ihn anschließend zur Ohrenuntersuchung schickt.

Doch schon wie im christlichen Paradies lauert auch im Totenreich Sri Lankas die Schlange und Verführerin, hier in Gestalt Sena Pathiranas, ehemals marxistischer Partei-Organisator, der nun als Ghoul in der Zwischenwelt herumlungert. Durch ihn lernt Maali mit den Winden zu reisen und findet die Stelle, an der seine sterblichen Überreste gerade von zwei Müllentsorgern in einen See geschmissen werden. Doch warum ist er tot und wer ist dafür verantwortlich? Maali hat 7 Monde Zeit, um Antworten auf seine Fragen zu finden. Danach kann er ins Licht gehen oder ist für alle Zeiten in der Zwischenwelt gefangen.

Ich habe mich mit der Geschichte nicht leicht getan. Wie in einem Wimmelbild habe ich versucht, den Spuren Maali Almeidas zu folgen, herauszufinden, wer Freund und wer Feind ist, welcher politischen Gruppierung die einzelnen Akteure angehören und in welcher Beziehung sie zu einander stehen. Immer wieder kommen Tote zu Wort, die in dem jahrelangen Bürgerkrieg ihr Leben lassen mussten

Trotz des ernsten Themas, der bedrückenden und morbiden Atmosphäre gibt es auch humorvolle Stellen, Gedanken über die Wiedergeburt oder ob Tiere eine Seele haben ... ein Wimmelbild eben, in dem es vieles zu entdecken gibt, das sich aber auch nicht auf den ersten Blick erschließt. Ich fand das auf der einen Seite spannend, auf der anderen Seite aber auch sehr mühselig und die ewige "Fummelei" des schwulen Protagonisten ging mir irgendwann ziemlich auf die Nerven. Abschließend bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem Buch wohl um eine Art Antikriegsroman handelt, bei dem es weniger darum geht, wer wann mit dem Konflikt begonnen hat oder wer die Täter und wer die Opfer sind, sondern darum, wie grausam und wie sinnlos ein solcher (Bürger)krieg ist. Statt Zahlen zu nennen bevölkert Shehan Karunatilaka seinen Roman mit einer illustren Schar Toter, bestehend aus Attentatsopfern, Selbstmördern, westlichen Touristen, ja sogar Tieren.

Es ist definitiv ein ungewöhnlicher Roman mit seiner Herangehensweise an die Vergangenheitsbewältigung des Bürgerkriegs in Sri Lanka und vielleicht ja die angemessene Form für ein Volk, das lieber nicht an alte Wunden rühren möchte. Ich fand die Lektüre als westliche Leserin allerdings auch ziemlich anstrengend und weiß immer noch nicht genau, ob ich das nun gut oder eher ärgerlich finden soll.