„ Eine Geschichte...erzählt man immer vom Ende her. Auch wenn man mit dem Anfang beginnt.“

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Ronya Othmann, 1983 geboren, ist die Tochter eines kurdisch- jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter. Die Protagonistin Leyla in ihrem Debutroman „Die Sommer“ weist einige Ähnlichkeiten mit der Autorin auf.
Jedes Jahr reist die Familie, der kurdische Vater, die deutsche Mutter und Tochter Leyla, beladen mit Geschenken für die ganze Verwandtschaft, in die Heimat des Vaters, ein kleines Dorf im Nordosten Syriens. Leyla erinnert sich an die heißen Sommer, die sie dort verbracht hat. Sie gibt Einblicke in die Bräuche und Gewohnheiten im Land, in dem sie in vielen Szenen und Episoden die Menschen lebendig werden lässt. Sinnlich genau beschreibt sie Landschaft und Natur. Sie schreibt von Kinderspielen, von den Rivalitäten der Cousinen, vom gemeinsamen Schlafen draußen auf Hochbetten, von Besuchen bei Onkels und Tanten in Aleppo und anderen Städten. Sie lässt den blinden Großvater seine Geschichten von früher erzählen. Und über all dem steht als zentrale Gestalt für Leyla die geliebte Großmutter, die mit ihr betet und ihr das Kochen beibringt. Die Großmutter ist die Einzige der Familie, die gläubig ist. Sie gibt ihrer Enkelin ( und damit dem Leser ) einen Einblick in die reichhaltige Welt der jesidischen Religion. Für Leylas Vater ist Religion lediglich ein Zeichen für Rückständigkeit und den Mangel an Bildung.
Eingeblendet in Leylas Erinnerungen ist die Lebensgeschichte des Vaters. Er durfte als Kurde in Syrien nicht studieren, wurde als Jugendlicher Mitglied der Kommunistischen Partei. Als junger Mann wird er verfolgt, verhaftet und gefoltert. Unter Lebensgefahr flüchtet er über die Türkei nach Deutschland. Hier muss er jahrelang auf seine Anerkennung als Asylant warten. Aus dem ehemaligen Kämpfer wird ein Mann, der immer höflich und bescheiden auftritt, nur nicht auffallen möchte. In seinem Garten versucht er den Garten seiner Eltern nachzubauen. Doch die deutschen Sommer sind zu kalt; nie wird es eine so üppige Ernte geben wie daheim.
Seine Tochter soll es mal besser haben, sie soll studieren und nicht, ganz traditionell, früh heiraten. Aber sie soll nie vergessen, dass sie Kurdin ist.
Doch irgendwann wird es zu gefährlich, in das Dorf zu reisen. 2011, zu Beginn der Revolution, ist der Vater noch euphorisch und voller Hoffnung. „ Ein Jahr noch, hatte der Vater gesagt und vor Freude gelacht, dann ist der Diktator weg, und wir fahren in ein freies Land.“
Aber der Traum wird zum Alptraum. Von nun an sitzt der Vater nur noch vor dem Fernseher und sieht die Schreckensbilder aus Syrien. Für die Angehörigen dort wird es lebensbedohlich. Immer wieder kommen Assads Truppen ins Dorf, auf der Suche nach Spitzeln. Doch nachdem die islamistischen Fanatiker der IS die Jesiden foltern, verschleppen und ermorden, setzen die Eltern alle Hebel in Bewegung, um die Verwandten nach Deutschland zu holen.
Nach dem Genozid an den Jesiden sagt der Vater: „ Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind.“
In den Schilderungen von Leylas Aufwachsen in Deutschland wird die Zerrissenheit spürbar. Nirgends richtig hinzugehören ist ein Thema, das in vielen „Migrationsbüchern“ angesprochen wird. Leyla pendelt zwischen dem Leben in einer bayrischen Kleinstadt und den Sommern in dem kurdischen Dorf. Überall ist sie die Außenseiterin , in Deutschland noch mehr. Ständig stößt sie auf Unwissen oder Unverständnis. „ Kurdistan gibt es garnicht.“ „ Bist du Muslima?“
Als junge Studentin fühlt sich Leyla fremd zwischen den deutschen Kommilitonen, die sich nur am Rande für das Geschehen in Syrien interessieren. Gleichzeitig plagen sie Schuldgefühle, weil es ihr in Deutschland gut geht, während in Syrien die Menschen um ihr Leben fürchten müssen.
Ronya Othmann hat viele Themen in ihren Roman gepackt. Anschaulich wird die fremde Kultur im kurdischen Dorf geschildert. Die Biografie des Vaters erschüttert und berührt. Sie gibt zugleich Einblick in die Geschichte der jesidischen Kurden, die schon immer rechtlos und verfolgt waren. Allerdings kam mir die Hauptfigur nicht wirklich nahe.
Trotzdem ist „ Die Sommer“ ein äußerst lesenswerter Roman zu einem aktuellen und zugleich zeitlosem Thema. Ich freue mich auf weitere Bücher der jungen Autorin.