Ein sehr berührendes Buch

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Daniel Glattauer beginnt seinen Roman „Die spürst du nicht“ mit einem Gemälde. Er malt ein sprachliches Bild von einer Ferienidylle in der Toskana. Zwei Familien, gut situiert, machen gemeinsam mit den 9-jährigen Kinder und der 14-jährigen Tochter Sophie-Luise Urlaub in einem Ferienhaus. Diese hat sich als Begleitung für die Ferien das Mädchen Aayana, die vor 4 Jahren mit der Familie aus Somalia geflüchtet ist und nun ihre Klasse besucht, gewünscht.
Die Familie ist stolz, Aayana vorübergehend „aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien und in eine Geländelimousine zu setzen, die sie in echte europäische Sommerferien der gehobenen Klasse bringen würde.“
Aayana wirkt mit ihrer stillen Zurückhaltung ein bisschen fehl in diesem Bild. Einer der Erwachsenen erwähnt lobend:
„Das ist ja wirklich eine Süße, und so brav, die spürst du gar nicht.“
Elisa und Melanie, die modernen, weltoffenen Frauen und Mütter, wollen Aayana ermuntern, sich von ihrem Ganzkörperbadeanzug zu befreien.
„(…) bei uns gelten eben unsere Werte, für die wir Frauen jahrzehntelang hart gekämpft haben. Es ist unsere Pflicht, sie weiterzuverbreiten“, meint Eliza.
Oskar, der gern seine Intellektualität betont, hegt Zweifel an diesem Weg.
Marie-Louise versucht derweil, Aayana das Schwimmen beizubringen, was sich als schwierig herausstellt, weil die Schülerin große Angst hat. Marie Louise beteuert ihr, dass, wenn sie innerlich loslassen würden, sie frei sei. „Du musst endlich locker werden, du musst dich so richtig frei fühlen, dann kannst du schwimmen, dann kannst du schweben, dann kannst du fast schon fliegen.“
Das Unglück ist unvermeidlich.
Und dann verändert sich alles, begleitet durch die Berichterstattung der Medien.
Der Roman gewinnt durch den Wechsel der Erzählperspektiven und des Erzählstils an Authentizität.
So liefert uns die Perspektive des von außen betrachtenden Erzählers Einblicke in „Weinkenner-Gespräche“ der Männer, die Lebens- und Gedankenwelt der 14-jährigen Marie-Louise oder die Liebesaffäre ihrer Mutter. Der aufmerksame Beobachter kann detailliert und tiefgründig in seine Charaktere hineinsehen und spart nicht mit ironischen Kommentaren.
Mit der Medienberichterstattung erfolgt ein Perspektivenwechsel ins „Sachliche“. Die Zeitungsartikel, samt Kommentaren werden „kommentarlos“ veröffentlicht.
Ebenso die Originalchats, die Marie-Louise in Internetforen hin- und herschreibt oder auch ein Interview, das ihre Mutter gibt.
Der Roman weist spannende Wendungen auf und führt am Ende dazu, dass die geflüchteten Menschen, die viele nicht „sehen“ wollen oder können, gehört werden. Eine dieser bewegenden Familiengeschichten erfahren wir hier.

In wunderbarer, überzeugender Weise gelingt es Glattauer mal wieder, erwachsene Menschen in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen zu charakterisieren. Authentische Dialoge, einschließlich der nichtgesagten Dinge.
Erschreckend ist der Blick auf eine Gesellschaft, in der jeder immer und zu allem etwas zu sagen hat, hemmungslose Meinungsäußerungen, die Sprache der Internettrolle. Erschreckend ist auch die Einsamkeit der Beteiligten. Sie sehen sich nicht in ihrer Not. Ein Blick in die Abgründe unseres Zusammenlebens.
Dieses Buch ist wie ein Hilferuf. Man möchte gern STOP rufen. Aber das geht leider nicht. So ist das Leben.
Das Buch hat mich sehr berührt.