Wahnsinnig oder wahnsinnig smart?

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laberlili Avatar

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Tremayne und ich sind uns häufig nicht so richtig grasgrün, sondern oftmals eher so blassmint: Einerseits lese ich seine Thriller recht gerne, andererseits hasse ich es, dass seine Bücher zum Schluss hin auch mal einen völlig unsinnigen Schwenk hin zum Paranormalen machen. „Die Stimme“ sprach mich nun auf Anhieb an; nach dem Lesen der ersten paar Seiten wollte ich auch unbedingt erfahren, wie sich diese Geschichte fortsetzt – und hatte dabei doch ständig die Befürchtung im Hinterkopf, dass letztlich weder nur Schizophrenie oder Angriff zum Tragen kommen, sondern noch eine Geistererscheinung auftreten könnte, die einem bis dahin guten und glaubhaftem Thriller doch noch einen lächerlichen Anstrich verleihen würde. Aber nein, das ist nicht passiert. ;)

„Die Stimme“ erzählt eine Geschichte, von der man sich vorstellen kann, dass sie in nur wenigen Jahren tatsächlich so passieren könnte, wenn Wohnungen/Häuser immer smarter ausgestattet werden: Die Protagonistin Jo, freie Journalistin auf beruflicher sowie privater Durststrecke, lebt quasi als Untermieterin ohne Zahlungsverpflichtungen in der Luxuswohnung ihrer elitären Freundin Tabitha, die ständig unterwegs ist, um irgendwelche Naturdokus zu drehen (und dabei gar nicht sonderlich engagiert in Sachen Natur- und Tierwelt wirkt). Dabei ist die Butze mit zig verschiedenen Home Assistants ausgestattet (dass man sich zuweilen schon fast wundern kann, dass es nicht ständig zu Ausfällen kommt, weil sich diese smarten Assistenten ständig gegenseitig in die Quere kommen) – die plötzlich ein skurriles bis morbides Eigenleben entwickeln, Jo auf dunkle Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit ansprechen, eigenmächtig eMails in Jos Namen versenden, heimliche Videoaufzeichnungen aus Jos Leben abspielen und keinen Hehl daraus machen, dass ihr Endziel Jos Tod ist. Allerdings hat sich Jos Vater einst das Leben genommen, nachdem seine Schizophrenie ihn mehr und mehr wahnsinnig machte; seine Diagnose war aufgefallen, nachdem er meinte, der Fernseher würde mit ihm reden – bei Jo sind es nun also die Smart Assistants, die sich nur zu Wort melden, wenn Jo alleine ist, so dass Jo einerseits verzweifelt versucht, diesem Treiben ein Ende zu bereiten und zumindest Zeugen für diese immer gehäufter auftretenden Vorfälle zu finden, und andererseits fast schon überzeugt ist, die Schizophrenie ihres Vaters geerbt zu haben, und daran verzweifelt, die Symptome in den Griff zu bekommen.
Spannend wird das Ganze dadurch, dass Jo natürlich mutmaßt, wer aus ihrem Umfeld das technische Knowhow besitzt (überraschend viele, denn Jo scheint sich, von Tabitha abgesehen, hauptsächlich mit den totalen Cracks der digitalen Boheme abzugeben) und noch dazu sooooooo viele Dinge über sie weiß (kaum jemand, und davon wissen generell alle aber auch nicht alles, was die Home Assistents jedoch so preisgeben). Da konnte ich mit Jo doch sehr gut mitfühlen und mitverdächtigen bzw. immer wieder überzeugt sein, dass sie definitiv einen herben schizophrenen Schub erlitt.

Wo Tremayne mir auch in „Die Stimme“ sehr grün ist: Jo ist nicht sonderlich sympathisch, ohnehin gibt es bei den Figuren nicht den Prototyp des allseits perfekten, allseits beliebten Menschen; die Figuren haben definitiv ihre Makel. Das mag ich, auch wenn ich es manchmal schon herausfordernd finde, wenn ich hier allenfalls mal eine Nebenfigur richtig toll finden kann (in diesem Fall z.B. den Obdachlosen „Autos“), und die hauptsächlich behandelten Figuren in einer oberflächlichen Blase versumpfen. „Versumpft“ wurde hier ohnehin ständig: Jede Menge in London spielender Romane haben mich zur Überzeugung kommen lassen, dass dort allabendliche Wein-Trinkgelage stattfinden (aber nur Rotwein!) und Pärchen in ihren 30 ebenso regelmäßig Swingerpartys besuchen oder wenigstens Dreier haben wie sie Wein trinken.
Hier passte Jos Darstellung für mich aber sehr: Irgendwie war sie noch sympathisch genug als dass ich es unerträglich fand, die Angriffe auf ihre gesamte Existenz zu beobachten, aber sie war mir auch noch unsympathisch genug als dass es mich nicht tieftraurig stimmte, dass sie nun womöglich in der geschlossenen Psychiatrie enden oder Suizid begehen würde. Sie war halt nicht der Typ Mensch, bei dem es einen tief erschüttert, wenn er schlimm erkrankt. Klingt zwar gemein, aber ich dachte definitiv die ganze Zeit während des Lesens, dass ich mich mit einer schizophrenen Jo sehr gut arrangieren könnte – und hoffte teils auch irgendwann, dass das letztlich des Rätsels Lösung sein würde, weil die (potentiellen) Wahnvorstellungen das Thema „Schizophrenie“ und was die Krankheit bei Betroffenen auszulösen vermag sehr gut in Szene setzten, dass man dann doch wieder dachte, das durchmachen zu müssen wünsche man niemandem, auch der unsympathischen Jo nicht.

Das Ende, in welche Richtung es auch gegangen sein mag, war dann auch schlüssig; man hat es als Leser gut verstehen können, wenn es mir da auch ein wenig zu holterdipolter ging, grad dafür, dass sich die ganze Situation zuvor mehr und mehr dramatisch zugespitzt hatte. Das hätte mir etwas entzerrter wohl doch auch noch ein Stück besser gefallen.
Letztlich bleibt in jedem Fall die Frage an den Leser, wie sehr künstliche Intelligenzen, erst recht zukünftig, das menschliche Leben beeinflussen können und da ist „Die Stimme“ definitiv ein sehr drastischer Gedankenanstoß, weil es sich hier eben voll und ganz darum dreht, ob Jo einfach krank ist oder ob sich die smarten Haushaltshelfer tatsächlich selbst zu manipulativen Psychopathen entwickeln können oder wie sehr von Dritten in ihre Prozesse eingegriffen werden kann – und alle drei Optionen scheinen in „Die Stimme“ ähnlich wahrscheinlich zu sein, was dann unsere echten, existenten Digitallösungen doch ein wenig sehr gruselig wirken lässt.