Glauben – Woran, das bleibt dem Leser überlassen.

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In seinem neuesten, knapp 750 Seiten umfassenden, Roman, an dem Wally Lamb neun (!) Jahre lang gearbeitet hat, wird dem Leser eine hochkomplexe Familiengeschichte, um nicht zu sagen Tragödie, präsentiert.

Die Erlebnisse und Gedanken der Hauptperson Caelum Quirk werden über einen Zeitraum von den 90ern bis heute begleitet. Dieser große Handlungsstrang ist durchsetzt mit Erinnerungen aus der Kindheit Caelums, Briefen seiner Urgroßmutter und Urururgroßmutter, einem Vortrag seiner späteren Untermieterin und Studentin der „Women’s studies“, Janis, einigen Zeitungsartikeln und dem E-Mail-Verkehr mit seinem besten Freund Alphonse.

Caelums Tante, die wie eine Mutter für ihn war, stirbt und seine Frau Maureen wird als Schulkrankenschwester zum gleichen Zeitpunkt Zeugin des Amoklaufs an der Columbine-Highschool. Sie trägt starke psychische Schäden davon, die ihr beider (Ehe-) Leben prägen werden. Caelum versucht nach diesen Ereignissen ein normales Leben zu führen, macht sich jedoch bald auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit und der seiner Vorfahren. Aber die Schicksalsschläge nehmen kein Ende.

 

Die Entwicklung der Geschichte ist an manchen Stellen ein wenig vorhersehbar, das stört aber kaum, weil sie so komplex ist, dass man sich freut, wenn mal etwas leicht nachvollziehbar ist. Die Komplexität ist ein großes Manko des Romans. Es sind dermaßen viele Mütter – leibliche und gesetzliche –, Großmütter und Urgroßmütter vertreten, dass der Überblick bisweilen recht schwer fällt.

Sehr gut gefällt die Sprache, die nie gekünstelt und immer ehrlich ist. Der Schreibstil in denen die Briefe der Urgroßmutter und ihrer Großmutter verfasst sind, wirken absolut authentisch, ebenso wie die immer ein wenig tollpatschig-lustigen E-Mails des Bäckers Alphonse.

Lamb versteht es ausgezeichnet die Figuren und ihre Gefühle klar zu zeichnen, die Beweggründe für das Handeln zu vermitteln und den Leser daran teilhaben zu lassen.

Auch die stärksten Gemüter sollten sich darauf gefasst machen, dass bei ihnen die eine oder andere Träne fließen wird, selbst wenn man zu Beginn des Romans nicht damit rechnet.

 

Einband und Titel sollten nicht unerwähnt bleiben, da sie leicht irreführen können:
Auf den ersten Blick mag man mit dem auf einem Zaun sitzenden Jungen/Mann einen Amish identifizieren, da für jene die abgebildete Art der Kleidung durchaus typisch ist. Mit dem Inhalt hat das allerdings überhaupt nichts zu tun. Die einzige für europäische Standards „ungewöhnliche“ Religionsgemeinschaft, die erwähnt wird, sind die Quäker, zu denen einige Vorfahren von Caelum zählen, deren Lebensweise, Ansichten etc. aber nicht dargestellt werden.
Der Titel suggeriert ein „Erleuchtungserlebnis“ oder ein Konvertieren zu einer bestimmten Glaubensform - dem ist nicht so. Während der Lektüre mag sich der Leser immer wieder fragen, wann denn nun diese entscheidende Stunde im Leben des Caelum Quirk kommen mag. Auf eine Antwort auf diese Frage muss er sehr lange warten. Der Glaube, der schließlich laut Caelums Aussage in sein Leben tritt, ist nicht explizit definiert.

 

Fazit:

Das Buch ist für Jedermann und -frau empfehlenswert, da es dem Autor mitnichten darum geht dem Leser eine bestimmte Glaubensrichtung näher zu bringen. Im Gegenteil werden verschiedene Ausprägungen des Glaubens durch die Hauptperson sehr kritisch betrachtet, jedoch wiederum ohne dadurch anderen Sichtweisen den Vorzug zu geben.
„Die Stunde, in der ich zu glauben begann“ ist eine faszinierende Geschichte, die reale Geschehnisse und Personen in beeindruckender Form mit fiktiven verbindet und so dem Leser eine bis zum Schluss mitreißende Lektüre beschert.