Gelungen
„Wir sind mehr als die Summe unserer Teile“, hatte Lyudmila einst zu ihrer Tochter Daria gesagt, als diese zu klein war, um es zu verstehen. Nun ist es an deren Tochter Lucy, überhaupt erst die Teile zusammenzutragen, die sie ausmachen. Mit 20 hat sie ihr Elternhaus in München ohne Abschied verlassen und ist nach Berlin gezogen, um dort zu studieren. Da dringt die Vergangenheit machtvoll in ihr WG-Zimmer ein: Ein riesiger Konzertflügel, auf dem sie als Kind das Klavierspielen erlernte, wird geliefert. Als Absender hat ihre Mutter Daria ihren polnischen Mädchennamen angegeben. Lucy weiß, dass ihre Großmutter Lyudmila Polen nach dem Einmarsch der Deutschen verließ, auf Umwegen nach Beirut gelangte, dort studierte, heiratete und ihre Mutter bekam. Lucy weiß auch, dass Lyudmila mit 12 erstmalig aus ihrem Dorf nach Sopot zur Tante ausgerissen ist. Sie hat plötzlich das Gefühl, mehr erfahren zu müssen, und reist nach Sopot, um ihrem Leben nachzuspüren.
Der Roman ist nach Orten und Daten strukturiert: Berlin und Sopot 2014, die Gegenwart des Geschehens, kreist hauptsächlich um die 23-jährige Lucy. 1944 ist Lyudmila aus Polen geflohen. 1976 kommt Daria in München an und beginnt ein Medizinstudium. Sie ist, wie ihre Mutter, gebildet und gut situiert. 1991 wird Lucy geboren, Darias Mutter besucht die Familie in München, es kommt zu einem Zerwürfnis, das bis zum Tod von Lyudmila anhält. 2014 nun reist Lucy von Berlin aus nach Sopot. Jede der Frauen hat ihre Erinnerungen, ihre Erfahrungen, trägt Teile von Lucys Leben in sich. Doch die Leben bleiben für sich, sie teilen sich einander nicht mit. Die Leser/innen ahnen früh, dass Lyudmila ein Trauma mit sich herumtrug, Daria jedoch sah nur deren Verhalten, war verletzt und wütend. Sie hatte sich vorgenommen, bei ihrer Tochter alles besser zu machen, Lucy fürchtet jedoch ihre Strenge, ihre Wissenschaftlichkeit.
Der Roman arbeitet das Band zwischen den Generationen – diese „poröse Kette von Frauen“ - sukzessive auf, lässt die Teile sichtbar werden, die im Bewusstsein der einzelnen Protagonistinnen existieren. Das Geflecht, in das ein Mensch hineingeboren wird und das ihn prägt, wird offenbar. Die Leser/innen erfahren mehr, als die einzelnen Personen voneinander wissen. Lucys Wunsch, den Wurzeln nachzuspüren, motiviert auch Daria, mehr über die eigene Mutter zu erfahren. „Du kennst die Details und kannst sie neu zusammensetzen“, gibt Lucys Vater ihr mit. Auch Daria wird sich dieser Aufgabe stellen müssen.
Paola Lopez schafft es in diesem klugen, vielschichtigen Roman Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern zu beleuchten. Die Teile fallen an ihren Platz und werden sichtbar, Daria und Lucy können zu verstehen beginnen, was sie ausmacht.
Die Sprache des Romans ist authentisch und verständlich. Hervorzuheben sind dabei die Originalität und Ausdruckskraft, hier gibt es keine Stereotype, keine abgegriffenen Bilder. Paola Lopez hat ihre ganz eigene Stimme.