Epische Prämisse, aber schwache Umsetzung

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Vor dem Hintergrund bewegter chinesischer Geschichte erzählt Karissa Chens Roman »Die Tage nach dem Pflaumenregen« eine weitreichende Liebesgeschichte, die zwei Menschen über sechs Jahrzehnte hinweg verbindet – und trennt. Die Autorin nimmt den Leser mit auf eine Reise, die von den Straßen Shanghais im Jahre 1938 bis zu einem zufälligen Wiedersehen in einem Supermarkt in Los Angeles reicht. Konkret folgt der Roman der Geschichte von Suchi und Haiwen, die 1938 in Shanghai durch die Musik von Haiwens Geige zueinanderfinden, sich jedoch durch politische Umstände und persönliche Entscheidungen aus den Augen verlieren. Als sie sich sechzig Jahre später in Los Angeles wiedersehen, stehen sie vor der Frage, ob ihre verloren geglaubte Liebe noch eine Chance hat.
Die größte Stärke des Romans liegt in seinem historischen Kontext: Leser erhalten einen interessanten Einblick in die turbulente Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. Die Erzählung bewegt sich durch verschiedene Länder – die Abschnitte, die in Shanghai, Hongkong und Taiwan spielen, bieten interessante Einblicke in das Leben und die Kultur Chinas in einer turbulenten Epoche. Wer sich für die historischen Umstände und den kulturellen Kontext interessiert, kann hier durchaus etwas lernen. Dagegen wirken die Passagen in den USA in jeder Hinsicht deplatziert, uninteressant und auch langatmig. Die Erzählung in diesem Teil des Buchs, die das Geschehen in der Gegenwart schildert, trägt kaum zur Spannung bei, und die vielen Protagonisten sorgen für Verwirrung – zuweilen fühlte ich mich beim Lesen wie ein überforderter Gast auf einer Geburtstagsfeier eines Freundes oder einer Freundin, den/die ich erst vor wenigen Tagen kennengelernt habe und dessen Bekannten- und Freundeskreis und all die Geschichten, die diese miteinander verbinden, mir folglich völlig unvertraut sind. Gerade in einem Roman, der sich primär mit chinesischer Geschichte beschäftigt, hätte auf eine derartige Ausdehnung in den USA verzichtet werden können.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Erzählweise, bleibt diese doch in weiten Teilen überraschend seicht. Überraschend deswegen, weil man von einer Autorin, die selbst Kreatives Schreiben lehrte, durchaus eine tiefgründigere, stilistisch ausgefeiltere und dramatisch geschicktere Erzählweise erwarten dürfte. Trotz der hochinteressanten historischen Kulisse und der bedeutungsschwangeren Thematik verliert der Roman oft an Intensität. Die Charaktere werden nur oberflächlich beleuchtet, und es fehlt an den nötigen Konflikten, die die Geschichte emotional aufladen könnten. Das Fehlen echter Spannungsmomente lässt das Werk eher wie eine Aneinanderreihung von Ereignissen erscheinen als wie eine packende Erzählung über verpasste Chancen und die schmerzliche Trennung der Protagonisten. Unterm Strich bleibt vieles ungesagt. Die Konflikte zwischen den Charakteren – sowohl in ihrer Liebe als auch in ihrer persönlichen Entwicklung – sind flach und werden nicht ausreichend ausgearbeitet. Die Hoffnung auf emotionale Höhepunkte bleibt zumeist vergebens; so wirkt auch das Ende eher wie ein tröpfelndes Auslaufen als ein kraftvoller Abschluss – letzlich wird das lange Warten auf einen emotionalen Höhepunkt nicht belohnt.
Für einen derart umfangreichen Roman empfand ich das Werk insgesamt als zu durchwachsen und farblos; trotz der epischen Prämisse gelingt es der Geschichte nur an ganz wenigen Stellen, wirklich mitzureißen. Wer sich ausschließlich für einen leichten Einblick in chinesische Geschichte interessiert, mag hier den ein oder anderen Mehrwert finden – Leser, die jedoch eine intensive, emotionale und stilistisch anspruchsvollere Lektüre erwarten, werden jedoch enttäuscht werden.