Heimweh durch die Jahrzehnte

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marapaya Avatar

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Nach der Lektüre von Karissa Chens Roman „Die Tage nach dem Pflaumen Regen“ wird mir richtig bewusst, wie sorglos mein Leben eigentlich ist und wie dankbar ich sein sollte, dass ich Krieg, Vertreibung und Flucht nie erleben musste und hoffentlich auch nicht erleben werde müssen. Gleichzeitig muss ich auch feststellen, dass mein Wissen über die Geschichte Asiens doch sehr, sehr limitiert ist und leider von vielen Vorurteilen bestimmt. Obwohl die Beschäftigung mit dem 2. Weltkrieg sogar ein Teil meiner beruflichen Arbeit ist, fokussiert man sich in Europa vor allem auf die Auseinandersetzung von Nazideutschland mit dem Rest der Welt. Welche kriegerischen Auseinandersetzungen in China, Japan, Taiwan und Korea vor sich gingen, sind fast nie ein Thema in unserer europäischen Sichtweise und das, obwohl Nazideutschland sich auch in die asiatischen Konflikte einmischte.
Zwei Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges ist der Krieg im chinesischen Shanghai allerdings bei weitem nicht vorbei. In China tobte nach der Auseinandersetzung mit den Japanern ein Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Republikanern. Die verschiedenen Ideologien führten auf beiden Seiten zu verhärteten Fronten und starkem Zwang auf die Zivilbevölkerung. Mitten hinein in dieses Chaos stellt Karissan Chen das junge Liebespaar Suchi und Haiwen. Seit Kindheitstagen eng befreundet fällt Haiwen zugunsten seiner Familie eine folgenschwere Entscheidung, die ihn die gemeinsame Zukunft mit seiner Liebsten Suchi kostet. Erst im letzten Lebensdrittel begegnen sich die beiden wieder und loten aus, ob ihre Vergangenheit nicht zu belastend für eine gemeinsame kurze Zukunft sein wird.
Chens Roman ist alles andere als chronologisch aufgebaut. Er beginnt mit der Trennung der jungen Liebe und windet sich dann von der Gegenwart in wilden, aber bewusst gesetzten Sprüngen durch die Lebensgeschichte der beiden Hauptfiguren. Es ist ein beeindruckendes Erzählen, denn erst nach und nach enthüllt sich die Komplexität der gesamten Geschichte. Und während ich zu Beginn noch etwas angespannt auf vermeintliche Längen im Text reagiere, zieht mich fast unbemerkt ein Sog immer tiefer in die Handlung hinein und lässt mich schließlich nicht wieder los. Karissa Chen erzählt sehr nah an ihren Figuren. Sie verzichtet auf ausführliche Erklärungen zu den jeweiligen historischen Entwicklungen, die Handlung erschließt sich dennoch ohne weiteres. Erst im Nachhinein beginne ich mich etwas einzulesen in die chinesische Geschichte und bin erschlagen von den Zahlen, Orten und Namen ganz zu schweigen von den Opferzahlen. Meisterhaft versteht die Autorin es, das Ausmaß von Krieg, Gewalt und Verlust am Beispiel dieser beiden Charaktere darzustellen, fast ohne dabei Gewalt- und Kriegsbeschreibungen verwenden zu müssen. Ihr kommt es auf die zwischenmenschlichen Töne an. Auf den begrenzten Blickwinkel als Flüchtling. Auf das Einfühlen in eine fremde Umgebung, ein fremdes Land, eine neue Sprache. Auf den Umgang mit dem Verlust von Familie und Heimat. Es ist eine durch und durch berührende Geschichte, die nachdenklich stimmt und in mir lange nachklingt.