Ein Debüt, das zum nachdenken anregt.

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Mein großer Dank geht an den Piper - Verlag, dass ich "Die Tanzenden" vor dem Erscheinungstermin lesen durfte.

"Die Tanzenden" ist ein, ausdrucksvoller, berührender Roman, der von starken Frauen, Hoffnung & Freiheit spricht.

Das gut recherchierte Debüt der französichen Schriftstellerin Victoria Mas führt uns in das Paris des ausgehenden 19. Jhd, 1885 - genauer gesagt in die Nervenklinik Hôpital de la Salpètrière. Das jährliche Highlight sowohl für die Patientinnen wie auch für die gehobene Gesellschaft steht kurz bevor: der "Mittfastenball". Während der Ball für die Besucher einem Zirkus- oder Zoobesuch gleich kommt, bedeutet diese Veranstaltung samt der Vorbereitungszeit für die vermeintlich "Irren" ein Event, an dem sie aus Monotonie, düsteren Gedanken, dem Alltag ausbrechen & vergessen können - aber auch die Hoffnung auf Veränderung, "gesehen zu werden". Louise trägt in diesem Jahr genau solch eine Hoffnung in sich: Ruhm & Heirat.

Neben der kindlichen, hoffnungsvollen Louise lernt der Leser vordergründig zwei Damen kennen, die gegensätzlicher nicht sein können:
Geneviève, die langjährige, einsame Oberschwester, die ihr Leben der Arbeit & den medizinischen Fortschritt widmet; zu lange den fraglichen Methoden der Klinik & den berühmten Arzt "Charcots" zweifelsfrei huldigt. Jedoch ist die Strenge & Verbissenheit auf ihrem Gesicht eine Maskerade... & nach jahrzehntelangem Aufrecht erhalten der Professionalität reicht nur eine unglaubliche Erschütterung ... Die intelligente, schlagfertige Eugénie. Ein Charakter den ich in mein Herz schloss, aufgrund ihres revolutionären Verhaltens, der Aufständigkeit gegenüber den Konvensionen; eine Frau, die die Ungerechtigkeit sah & sie trotz der drohenden Konsequenzen nicht hinnehmen wollte. Als sie ihr jahrelang gehütetes Geheimnis im falschen Vertrauen äußerte, wurde Eugenie zu Unrecht von ihrem Vater eingewiesen - & wir bekommen einen Eindruck davon, wie leicht es war sich "Störfaktoren" zu entledigen.
Jeder der drei Charaktere trägt ihre eigene, schwere Bürde, eigenen Verlust, aber auch die Einblicke die Victoria Mas gewährt, welche Umstände andere Patientinnen nach "Salpètrière" brachten, ist erschütternd.

Die Art wie die junge Autorin behutsam, auf sanfte Weise durch die 240 Seiten führt dämpft nicht den Schrecken, der sich hinter dem unscheinbaren Cover verbirgt. Dadurch, dass "Die Tanzenden" aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, ist es ein abwechslungsreiches lesen, welches begünstigt die Protagonistinnen individuell kennen lernen, Entscheidungen verstehen & nachvollziehen zu können. Angeschnitten werden auch die Anfgänge der Entstehung dieser berühmten Nervenheilanstalt was ich ebenso interessant fand, wie auch die Erwähnung der ausgebuchten "Lehrveranstaltungen", in denen die Patientinnen vor Publikum u.A. durch Hyptnose vorgeführt, zu Objekten, die einzig zu experimentellen Zwecken dienlich sind, regradiert wurden. Ohne Gewissensbisse begafft von der besser situierten Gesellschaftsschicht. Mit klaren Worten gibt Victoria Mas Frauen eine Stimme, lässt mit ihrem Debüt eine eindringliche Botschaft wehen.

Eine Geschichte die auf eine sachte, leichte Art eine Grausamkeit schildert, die mich auch nach dem Ende nicht losgelassen hat. Blickt man aus der heutigen Zeit, mitsamt den Fortschritten, den erreichtem Wissen in Medizin & Technik, der Gleichberechtigung- & stellung der Geschlechter & den geltenden Menschenrechten, in die Zustände des Paris um 1885 möchte man ... ja, man möchte weinen. Die Gewissheit, dass diese Art der Züchtigung von Frauen, die ihre Stimme & ihren Verstand nutzten, Emotionen zeigten, krank oder behindert waren, einfach "störten" schmerzt; mit aufrichtiger Fassungslosigkeit schüttelte ich den Kopf über die wahrhaftige Existenz des Mittfastenballs in der Nervenheilanstalt La Salpêtrière.