Erdrückend und berührend

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mel.e Avatar

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"Die Tanzenden" ist ein Roman, der mich wirklich zutiefst berührt hat. Ich war wütend, ich war erschrocken und ich habe mich unwohl gefühlt, da Frauen eingesperrt werden, die sich nicht fehlverhalten haben, sondern einfach nicht in die Norm passen, auf der anderen Seite aber komplett zur Schau gestellt werden sollen während eines Balls. Der "normale" Mensch wird dazu eingeladen, alles was Rang und Namen hat, um Verrückte zu betrachten. Ich bin entsetzt, wobei das Frauenbild auch in unserem Land auch noch nicht all zu lange von Selbstbestimmung und Emanzipation redet. Frauen werden verstoßen, wenn sich Männer ihrer überdrüssig werden? Es ist so leicht, Frauen in die Klinik zu verfrachten und ihnen somit ihre Freiheit zu nehmen. Hier im Roman werden die Frauen Hysterikerinnen genannt und es hat mich auf der einen Seite fasziniert, aber auf der anderen Seite auch komplett abgestoßen durch die Tatsache, das nicht alle Frauen, die sich in Salpêtrière, dem berühmtesten Krankenhaus der Stadt Paris befinden, dort sind, weil sie an Epilepsie oder einer anderen Hirnschädigung leiden, sondern einzig alleine dadurch, das sie sich nicht angemessen verhalten haben oder eben auch aus dem Weg geräumt werden, um den Mann Freiheit zu schenken, der sich dann neu binden könnte ohne Skandal. Immer wieder bin ich erstaunt, was alles möglich war und wie einfach es ist, sich seiner Frau zu entledigen, um diese einweisen zu lassen. Historisch ist "Die Tanzenden" fundiert und glaubhaft erzählt.

Eugènie, die über spirituelle Verbindungen zu Verstorbenen verfügt, wird direkt nachdem sie sich ihrer Großmutter anvertraut, in die Klinik eingewiesen, denn durch ihre Begabung mit den Toten zu sprechen, wirkt sie unheilbar nervenkrank. So nimmt diese Story ihren Anfang und zeigt rasch, das jede Frau ihre eigene Geschichte zu erzählen weiß. Es gibt Frauen, die ihr Schicksal annehmen und diejenigen, die davon träumen ihre Freiheit zurückzuerlangen. Es scheint allerdings eher so, das die Türen für immer verschlossen bleiben. Lediglich die Ballnacht wird den Traum der Freiheit kurzweilig erfüllen. 1885 ist das Jahr, welches beschrieben wird und es erscheint, als wäre es eine ganz andere Welt. Psychiatrische Einrichtungen gibt es heute noch und ihr schlechter Ruf eilt ihnen voraus, dennoch ist es definitiv schwieriger dort einen Platz zu bekommen und durch Hörensagen einer Psychose definitiv nicht. Das Männerbild der damaligen Zeit gibt mir ganz viel Raum zur Dankbarkeit, das mir nicht der Mund verboten wird und ich auch innerhalb meiner Bildung eine freie Wahl hatte und nicht mein Mann Dinge für mich entscheidet. Ich darf Selbstbestimmt leben und meine eigenen Entscheidungen treffen.

Für mich gehört "Die Tanzenden" zu meinen Highlights 2020. Der Roman hat mich mitunter förmlich erdrückt durch Ungerechtigkeiten und die Schicksale der beschriebenen Charaktere mich zutiefst berührt, aber es ist ein Stück Geschichte, wenn auch fiktiv beschrieben, wobei sicherlich hier und da auch ein Fünkchen Wahrheit enthalten war. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung, da ich mich sehr schnell auf Protagonisten und Handlung einlassen konnte.