Erst die Irrenanstalt macht dich irre

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"Keine Frau kann je wirklich sicher sein, wegen ihrer Äußerungen, ihrer Eigenart oder ihrer Ideale nicht doch hinter den gefürchteten Mauern im dreizehnten Arrondissement zu landen. Daher sind sie auf der Hut."

Ende des 19. Jahrhunderts ist die Salpêtrière das wohl berühmteste Krankenhaus in Paris - denn dort leben die geisteskranken Frauen. Weggesperrt von Ehemännern, Vätern, Brüdern, oder der Polizei, vegetieren sie vor sich hin und dienen als Untersuchungs- und Amüsierobjekte. Geneviève ist seit 20 Jahren Krankenschwester in der Salpêtrière, und sie hat schon vor langer Zeit aufgehört, Mitleid oder Empathie mit den Insassinnen zu empfinden. Doch dann wird die offenkundig völlig normale Eugénie eingeliefert, weil sie angeblich mit den Toten redet. Geneviève wird Zeugin dieser Gabe, und danach ist für die Krankenschwester nichts mehr, wie es einmal war.

Wie in Tolstois "Auferstehung" ist das grobe Motto dieses Romans wohl: "Verrückt ist eigentlich niemand, der hierherkommt, aber spätestens wenn man dann hier ist, wird man verrückt." Victoria Mas inszeniert eine Geschichte rund um drei Frauen, die vor dem historischen Hintergrund der Salpêtrère spielt, der berühmt-berüchtigten Irrenanstalt in Paris. Geneviève ist Aufseherin, Louise seit Kurzem Patientin, und Eugénie hat auf den ersten Blick nichts mit dem Krankenhaus zu tun, aber es ist sehr offensichtlich, wo der Weg für sie hinführen wird - nämlich mitten hinein ins Irrenhaus. Der Roman versucht sich also gewissermaßen an dem bewährten Modell, drei unabhängige Frauenschicksale auf unerwartete Weise miteinander zu verknüpfen - und scheitert daran, da dafür alles zu vorhersehbar ist. Und noch dazu vermischen sich die Perspektiven nach etwa einem Drittel, der auktoriale Erzähler übernimmt die Oberhand und springt mal hierhin, mal dorthin. Das ist wenig überzeugend und lässt die Figuren seltsam platt wirken.

Dabei sind die Schicksale der Frauen absolut erzählenswert und im Grunde sehr schockierend. Ihnen allen ist gemein, dass ihnen Leid angetan wurde, das niemanden psychisch unversehrt lässt, dass dann aber am Ende sie es sind, die in die Heilanstalt eingewiesen werden - und die eigentlichen Täter (alkoholkranke Eltern, Freier, gewalttätige Ehemänner, etc.) kommen ungeschoren davon. Es ist schon so ein klassisches Männer-Bashing in dem Roman, aber es wird auch ganz deutlich, dass die Wenigsten in dieser Anstalt wirklich verrückt sind. Sie sind einfach nur seelisch schwer verwundet. Und dafür sind die abstoßenden Behandlungsmethoden der Ärzte definitiv nicht die richtige Therapie. Eierstock-Druckmassagen, Hypnose, Ruhigstellung durch Äther und Chloroform. Dabei bräuchten die Frauen eigentlich nur jemanden, der mal mit ihnen redet und sie vielleicht in den Arm nimmt. Die Salpêtrière ist eine Art Müllhalde für alle Frauen, die den Männern (oder ganz allgemein ihrer Umwelt) Angst einjagen. Ich bin jedenfalls froh, dass ich in einer psychologisch aufgeklärten Welt lebe.

Es gelingt der Autorin auch hervorragend zu zeigen, dass es in diesem Krankenhaus nicht um Heilung geht. Es geht um Karriere, um einzelne mächtige Männer, um Vorführung und Amüsement. Statt den Frauen zu helfen, müssen sie bei Vorlesungen und Bällen als Studienobjekte herhalten. Mit Blicken und Worten, manchmal mit Schlimmerem, vergehen sich die Mediziner an ihnen. Und sie haben keine Chance, sich zu wehren, denn jedes Aufbäumen wird ihnen als Ausbruch ihrer Krankheit, als Anfall, als Verrücktheit angerechnet. Selbst die normalsten Gefühlsregungen wie Wut und Empörung führen zu tagelanger Isolationshaft.

Und trotz all dieser schweren und berührenden Themen gelingt es der Autorin nicht, mich mit ihrer Geschichte zu erreichen. Die Figuren bleiben kilometerweise auf Distanz und wirken manchmal beinahe plakativ. Die knallharte Krankenschwester, die nach dem Tod ihrer Schwester niemanden mehr an sich heranlässt. Die aufmüpfige junge Frau aus gutem Hause, die wirklich und wahrhaftig mit den Geistern der Toten kommuniziert. Und das durch Vergewaltigung gebrochene junge Mädchen, das noch immer davon träumt, dass der Ritter auf dem weißen Ross sie erretten wird. Vieles wiederholt sich, aber eigentlich nur an der Oberfläche, sodass man nie wirklich in die Figuren hineinschauen kann. Warum denkt Eugénie zum Beispiel nie an ihre verräterische Großmutter? Warum gibt es Louises Perspektive überhaupt als separaten Strang, jedenfalls am Anfang? War die Einweisung in die Salpêtrière wirklich so willkürlich? Auch der sehr abgehackte, asyndetische Stil, bei dem sich ein kurzer Hauptsatz an den nächsten reiht, hat nicht dazu beigetragen, die Geschichte intensiv zu erleben. Einen Vorteil hat es aber: Das Buch lässt sich schnell und ohne viel Grübelei lesen.

"Die Tanzenden" thematisiert ein traumatisches Stück Psychologie-Geschichte, in dem wie immer die Frauen die Leidtragenden sind. Auch wenn er manchmal zu plakativ und mit zu hoch erhobenem Zeigefinger daherkam, hat mich der Roman nicht enttäuscht. Ich habe ihn als angenehme, nicht uninteressante Sonntagslektüre empfunden, die mich nicht auf einer tieferen Ebene berühren konnte.