Innerlich zerrissen

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elchi130 Avatar

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Im Mittelpunkt von „Die Tanzenden“ stehen die Menschen in einer Nervenheilanstalt für Frauen in Paris. Hier begegnen wir der langjährigen Oberaufseherin Genevieve. Sie ist nach dem frühen Tod ihrer geliebten Schwester innerlich erstarrt. Die Prostituierte Therese ist mittlerweile seit 20 Jahren Patientin in der Anstalt. Sie möchte auch nirgendwo anders sein. Ganz anders Louise. Sie hofft in Kürze von Jules, einem jungen Mediziner aus der Salpetriere, wie das berühmteste Krankenhaus der Stadt heißt, nach 3 Jahren endlich herausgeholt zu werden. Das immergleiche Leben hinter den Mauern gerät in Bewegung durch die Einlieferung von Eugenie, einer gutbürgerlichen Notarstochter. Sie wird von ihrem Vater hierher gebracht, nachdem er erfahren hat, dass sie mit Toten kommunizieren kann.

Victoria Mas führt die Hauptfiguren sehr lang und ausführlich und damit für meinen Geschmack zum Teil auch sehr langatmig ein. Besonders die Beschreibungen, wenn es um Genevieve und ihr Leben geht, sind sehr detailliert. Dabei ist es egal, ob es um Wertvorstellungen der Oberaufseherin geht oder um die Beschreibungen der Umgebung.

Dazu kommen zum Teil schwer erträgliche Szenen, wenn es darum geht, wie schnell Frauen 1885 und früher in der Salpetriere landen können und wie wenig Hoffnung besteht, dass sie die Nervenheilanstalt jemals wieder verlassen. Die ganze Zeit hatte ich ein beklemmendes Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht. Bei den Schilderungen werden teilweise Behandlungsmethoden oder Lebensumstände vorgeführt, die ich nur mit Abscheu lesen konnte.

Dass Eugenie Tote sehen und mit ihnen kommunizieren kann, war für mich sehr befremdlich, sodass ich beim Lesen dieser Szenen zu Beginn meistens nur ein Fragezeichen im Kopf hatte und gar nicht wusste, wie ich diesen Erzählstrang einordnen sollte. Der Gedanke, dass es Menschen gibt, die mit Toten kommunizieren können, ist mir einfach zu irreal. Obwohl mir natürlich bekannt ist, dass es diese spirituelle Richtung in der Avantgarde gab.

Das Ganze führte dazu, dass ich die erste Hälfte des Buches nur mit Widerwillen gelesen habe. Es gab keinen Erzählstrang, der mich interessierte. Geändert hat sich das in der zweiten Hälfte des Buches. Endlich hatte ich den Eindruck, im Buch angekommen zu sein. Wir erleben hier die Entwicklung der Genevieve von einer innerlich erstarrten Person, die funktioniert, zu einem empathischen Menschen, der sich für andere einsetzt und sich selber wieder fühlt. Diese Entwicklung fand ich spannend und interessant. Hier habe ich den Schreibstil, den ich vorher zum Teil hölzern und langatmig fand, als sehr flüssig und kurzweilig empfunden.

Die bessere zweite Hälfte des Buches reicht mir jedoch nicht für eine klare Leseempfehlung.