Interessanter Roman, aber nicht das, was der Klappentext verspricht

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lynn253 Avatar

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Victoria Mas Debütroman „Die Tanzenden“ hat das Pariser Krankenhaus „Salpêtrière“ zum Thema. Die Geschichte spielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit in der dort Frauen eingewiesen wurden, die an psychischen Erkrankungen litten, gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen hatten oder ganz einfach von ihren Familien abgeschoben wurden.
Ingesamt also eine spannende Thematik und eine Institution, über die man sonst nicht viel hört.

Im Zentrum stehen vor allem drei Frauen. Die sechzehnjährige Louise ist Patientin der Salpêtrière. Bei ihr werden erschreckende Versuche im Namen der Forschung durchgeführt: Vor großen Publikum löst der Arzt Dr. Charcot Krampfanfälle aus. Schwerwiegende Komplikationen nimmt man in Kauf, jetzt wird erst recht Medizingeschichte geschrieben! Es ist bedrückend zu sehen, wie die junge, nach einem äußerst traumatischen Ereignis emotional labile Louise bewusst manipuliert wird.
Insgesamt scheint es sich bei vielen der Patientinnen um Opfer von Gewalt und Missbrauch zu handeln. Einige von ihnen wollen gar nicht entlassen werden, weil die Welt draußen für sie noch schlimmer ist als die Krankenstation.

Eine weitere Hauptperson ist Geneviève, die sich in der Salpêtrière um die Frauen kümmert. Sie hat sich nach dem Tod ihrer Schwester an Tuberkulose der medizinischen Forschung verschrieben und glaubt fest an die Wissenschaft. Im Laufe des Romans muss sie jedoch ihr Weltbild überdenken und neu ordnen. Dieser Wandel schien mir realistisch und einfühlsam dargestellt.

Bei der dritten Protagonistin handelt es sich um die Notarstochter Geneviève. Ihr ist es gelungen ihr Denken von gesellschaftlichen Dogmen zu befreien. Sie weiß wer sie ist und was sie will. Und so ist sie entschlossen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen in einer Zeit, in der Frauen nichts entscheiden dürfen. Dieser Plan wird jedoch dadurch zunichte gemacht, dass ihr Vater sich von ihr lossagt und sie in der Salpêtrière abgibt. Der Grund dafür: Sie kann Geister sehen und hören. Dieses Element der Geschichte hat mich zunächst sehr irritiert. Die Anwesenheit der Geister wird ganz deutlich als real dargestellt, Geneviève ist bei klarem Verstand.

Die Sprache ist sehr klar, Situationen werden anschaulich beschrieben. Das Erzählen im Präsenz verleiht dem Roman einen besonderen Ton.
Gut gefiel mir auch, wie einige Szenen von außen nach innen aufgebaut werden: zuerst werden Ort und Gegenstände beschrieben als würden sie im Zentrum stehen, dann erst geht es um die Personen.
Ein besonderes Merkmal ist zudem die Tatsache, dass die wörtliche Rede ohne einleitende Sätze auskommen muss. Den Dialogen lässt sich in der Regel trotzdem gut folgen.

Insgesamt eine interessante, ungewöhnliche Geschichte. Die Schicksale der drei Frauen werden einfühlsam erzählt. Mit etwas über 200 Seiten allerdings ein recht kurzer Roman, in dem, was die Handlung angeht, vergleichsweise wenig zu passieren scheint.

Der Klappentext geht für mich sehr am Inhalt des Romans vorbei.
Auf dem Buchrücken ist von Frauen zu lesen, die in die psychatrische Klinik eingewiesen werden, weil sie aufbegehren, selber denken wollen, vielleicht studieren und selbstbestimmt leben. Meines Erachtens kommen diese Frauen in dem Roman nicht vor. Am nächsten kommt ihnen Eugénie, die allerdings eingewiesen wird, weil sie die Toten sprechen hört.