Verstörende Vorgänge

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Verstörende Vorgänge

Lange war mir nicht klar, was es mit dem Titel auf sich hat. War damit ein imaginärer Tanz im Kopf gemeint, unbemerkt von Angehörigen, Ärzten, Pflegepersonal und Mitpatienten? Denn von der Ballnacht ist erst spät die Rede. Im Originaltitel wird sie hingegen gleich angesprochen.
Frauen jeden Alters, die man oft bereits als Kind für irr, gestört, geisteskrank erklärt hat, fristen in der Pariser Salpêtrière ihr unwürdiges Dasein.
Sie werden gedemütigt, vor männlichem Publikum zu Versuchen vorgeführt und missbraucht, in deren Verlauf nicht selten irreparable Schäden angerichtet werden. Und das alles zum Wohl der Wissenschaft (erinnert stark an die Verbrechen der Nazi-Ärzte) und eines nun ungestörten Treibens ihrer Ehemänner und der Gesellschaft. Denn die Frauen haben gewagt, eigenständig zu denken, ihre Rechte einzufordern, ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten nicht geheim halten zu müssen, einfach ein gleichgestellter Mensch sein zu wollen.
So jung sie noch ist, verfügt Victoria Mas bereits über viel Einfühlungsvermögen und Kenntnis der menschlichen Psyche. Es ist eine verstörende Lektüre, besonders wenn man bedenkt, dass die geschilderten Praktiken keineswegs erfunden, sondern noch vor gar nicht so langer Zeit tatsächlich durchgeführt wurden. In unlarmoyantem Stil, mit Spannung und Eindringlichkeit geschrieben, hat mich der Text ungemein gefesselt.
Meine Sympathie gilt vor allem der kämpferischen Eugénie und Louise, die sich dagegen wehren, unschuldig in eine wahre Hölle weggeschlossen worden zu sein. Mir gefiel auch die strickende Thérèse, ein stabiler Fels inmitten des Schlafsaals, die so tragisch endet. Zwiespältig denke ich über Geneviève, die sich um die Freilassung von Patientinnen bemüht, was ihr letztlich zum Schaden gereicht. Ganz schlimm der eitle Arzt Charcot.
Ein wichtiges Buch über ein Thema, von dem viele bis heute die Augen verschliessen.