Blutige Revenge-Story mit kleineren Schwächen

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krabbe077 Avatar

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Auf Tom Lins Debütroman, Die tausend Verbrechen des Ming Tsu, habe ich mich sehr gefreut. Covergestaltung und Klappentext haben mir direkt Lust gemacht auf eine schmutzige Western-Revenge-Story, ein Setting, dem ich bisher bloß im Film begegnet bin. Der Autor wurde für sein Debüt mit der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction 2022 ausgezeichnet, die unter anderem auch schon Donna Tartt und Colson Whitehead verliehen wurde. 

Wir begleiten Ming Tsu, den Protagonisten, im Jahr 1869 auf seinem Rachefeldzug vom Great Salt Lake bis nach Sacramento, wo seine Frau auf ihn wartet. Ming Tsu führt eine Liste mit Namen mit sich, die zu den Menschen gehören an denen er unterwegs Vergeltung üben wird. Diese sind dafür verantwortlich, dass er von seiner Frau getrennt, fast totgeprügelt und zur Zwangsarbeit für die Eisenbahngesellschaft versklavt wurde. Das klingt erstmal nicht besonders ausgefallen, vielleicht sogar ein bisschen klischeehaft, stört aber beim Lesen nicht. Was die Geschichte auf ihre eigene Art besonders macht, sind seine Begleiter. Zunächst der Prophet, ein erblindeter alter Chinese, der die Gabe besitzt, den Todeszeitpunkt anderer Menschen zu vorherzusagen, jedoch über keinerlei Erinnerungsvermögen verfügt. Bald treffen Ming Tsu und der Prophet auf eine wundersame Gruppe von Schaustellern, mit denen sie fortan gemeinsam gen Westen ziehen. Die Zusammensetzung wirkt zunächst spannend und vielversprechend. Das Setting und die Ausgangslage nach ca. 80 Seiten haben mich sehr positiv gestimmt und ich konnte kaum erwarten wie es weitergeht. Leider wurden meine Erwartungen nicht erfüllt. Die Reise ist geprägt von langgezogenen Wanderungen durch die ewige Wüste, in denen sich der Autor häufig wiederholt. Besonders auffällig wird dies an Zeitpunkten, an denen das Wasser knapp wird oder das nächtliche Lagerfeuer ansteht. Die Charaktere lassen ihr Potenzial unausgeschöpft, führen belanglose und teilweise nicht ganz nachvollziehbare Gespräche. Beispielhaft hierfür war für mich eine Auseinandersetzung zwischen Ming Tsu und dem Ringmeister, in der Ming Tsu in einen unerwarteten aggressiven Ausbruch verfällt. An dieser Stelle recht spät im Roman hatte ich das Gefühl, den Protagonisten immer noch nicht zu kennen, bzw. einschätzen zu können, was in ihm vorgeht. Die anderen Charaktere bleiben leider blass und nur auf den ersten Blick interessant. 

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu ist keineswegs ein schlechter Roman und durchaus unterhaltsam. Leider habe ich nach dem spannenden Einstieg etwas wirklich Besonderes erwartet. Dem wird die Geschichte dann eben nicht gerecht. Die Sprache hat mich teilweise irritiert, vor allem an Stellen mit sehr vulgärer Ausdrucksweise. Möglicherweise gab es hier Schwierigkeiten bei der Übersetzung. Daher empfehle ich Lesern, für die Englisch keine Hürde darstellt, das Buch im Original zu lesen. Ich bin jedenfalls gespannt auf weitere Veröffentlichungen des Autors, ein solides Debüt ist ihm durchaus gelungen. Vielleicht schafft er ja in einem seiner nächsten Romane das von mir erhoffte besondere Etwas.