Ungewöhnliche Kombination aus Western und Thriller mit übernatürlichen Elementen

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alekto Avatar

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Da dem Revolverhelden und Hitman Ming Tsu furchtbares Unrecht angetan wurde, sinnt er schon seit längerem auf Rache. Diese vollzieht er als erstes an Judah Ambrose, der als ehemaliger Anwerber der Central Pacific nun zum armseligen Säufer verkommen ist. Doch damit verbleiben immer noch fünf Namen auf Mings Liste: James Ellis, der Vorarbeiter bei der Central Pacific ist, Sheriff Charles Dixon, Richter Jeremiah Kelly und die Porter-Brüder Gideon und Abel. Denn diese haben Ming unter Führung ihres Vaters seine Frau Ada genommen, die er zurückgewinnen möchte. Und so plant Ming seine Reise von der Stadt Corinne entlang des Salzsees und durch die Sierra bis runter nach Kalifornien. Unerwartete Hilfe erhält Ming dabei vom mysteriösen Propheten, der eine besondere Gabe besitzt.

Mit den tausend Verbrechen des Ming Tsu liefert Tom Lin ein starkes Debüt ab. Auf diesen Roman stimmt die ihm vorangestellte Karte ein, die Kalifornien, Nevada und das Utah Territorium, wie diese im Jahr 1869 aussahen, zeigt und dem Weg folgt, den Ming Tsus Rachegedanken bestimmen.
Dabei ist Ming ein interessanter Protagonist. Denn er ist der Mann ohne Schatten, der nicht zum für ihn vorgesehenen Zeitpunkt gestorben ist. Nun wird er nur noch von seinem Wunsch nach Rache und seinem lang ersehnten Wiedersehen mit seiner Liebe Ada angetrieben. Auch ist Ming einfallsreich. So gräbt er etwa unterm Salzgras in der Steppe nach Wasser, das zwar salzig, aber trinkbar ist, um nicht zu verdursten. Zudem ist Ming ein ausgezeichneter Schütze, der keiner Konfrontation aus dem Weg geht, da er keine Schießerei zu fürchten hat, und wenig Probleme damit hat, seine Gegner niederzustrecken. Doch verabscheut er es Pferde zu töten.

Gleich zu Beginn hat der Autor es geschafft die Zeit, in der dieser Western-Thriller spielt, vor meinem inneren Auge lebendig werden zu lassen. Dazu tragen besonders die Details, die nebenher einfließen, bei. So sind etwa Revolver, die nicht mit Bleikugeln und Schwarzpulver, sondern mit Patronen geladen werden, noch neu. Einen solchen Revolver, der in der damaligen Zeit viel Geld wert ist, hat Ming seinem ersten Opfer im Roman abgenommen. Auch das charakteristische Verlegen der Schwellen beim Eisenbahnbau, der bei der Central Pacific durch irische Kolonnen und chinesische Arbeiter erfolgt, hat Tom Lin gut eingefangen. So erinnerte mich dieser Roman am Anfang an die Western-Serie Hell on Wheels, die vom Bau eben dieser Eisenbahn handelt.
Überraschen konnte Tom Lin mich dann mit dem Auftritt des Propheten. Bis zu diesem Zeitpunkt wähnte ich mich in einem klassischen Rache-Western, der um den Bau der Eisenbahn durch die Central Pacific kreist. Vom blinden Propheten erhält Ming unerwartete Hilfe auf seinem Rachefeldzug, als dieser Ming dann auf seiner Reise in den Westen begleitet. Fortan bilden die beiden ein ungleiches Gespann, bei dem doch die Chemie in deren ungewöhnlichen Dialogen stimmt. Denn der Prophet besitzt als blinder Seher besondere Fähigkeiten. So verfügt er über Wissen, dass er eigentlich nicht haben kann. Das schließt auch zukünftige Ereignisse mit ein. Und der Prophet wird nicht die einzige Figur mit einer besonderen Gabe bleiben, der Ming auf seinem Weg begegnet und die ihn auf seiner weiteren Reise begleiten wird. Diese mystischen Elemente, um die der Autor seinen Western-Thriller nicht nur anreichert, sondern diesen erstaunlich viel Raum gibt, verleihen seinem Debüt einen besonderen Touch.

Stark beginnt dieser Roman, da dessen Spannungslevel in seiner ersten Hälfte hoch ist. Denn Ming wird in seiner Erinnerung an den kürzlich begangenen Mord an Judah Ambrose vorgestellt. Auch sein nächstes Opfer lässt nicht lang auf sich warten. Und da auf Ming ein Kopfgeld ausgesetzt wurde, gerät er bald in weitere Schießereien. Zudem benötigen Mings im Verlauf der Handlung hinzugekommene Weggefährten seinen Schutz, wenn diese in Streit geraten, der physische Auseinandersetzungen nach sich zieht. Tom Lin geizt nicht mit actiongeladenen Szenen, die aus Duellen, Schießereien, Überfällen durch Indianer und vielem mehr bestehen. Abwechslungsreich gestalten sich diese durch die verschiedenen Schauplätze, an denen die sich mit anderen Beteiligten zutragen. Und wenn Ming eine Ruhepause während ereignisloserer Tage auf seiner Reise vergönnt ist, wird er von schaurigen Albträumen geplagt, die eher düstere Vorahnungen zu sein scheinen.
Die Spannung vermag der Autor im weiteren Verlauf des Romans jedoch leider nicht zu halten. So gelungen das Buch als Thriller im Western-Setting, der um übernatürliche Elemente angereichert ist, in seinem ersten Teil ist, zeigen sich doch Schwächen, wenn die Handlung in seinem zweiten Teil in ein Drama umschlägt. In diesem Drama fällt es Tom Lin schwer seinen Rhythmus zu finden. Mal dauern Entwicklungen zu lang an und wirken dann langatmig, mal kommen zu schnell daher und werden so wenig nachvollziehbar. Auch bleiben die Figuren dabei seltsam blass, so dass ich deren Leid kaum mitgefühlt habe.
Die tausend Verbrechen des Ming Tsu hätte mir besser gefallen, wenn Tom Lin auf seine ausufernden Drama-Passagen verzichtet hätte und sich stattdessen auf den spannenden Thriller in seinem eigenen ungewöhnlichen Stil konzentriert hätte, in dem er seinen Roman begonnen hat.