Die Tochter, deren Mutter niemals die Hoffnung verlor

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
annis22 Avatar

Von

"Ich schätze, das ist das Erbe meiner Mutter. Wir sind nicht dazu geschaffen, aufzugeben."

Annette Sprattes "Die Tochter der Hungergräfin" erzählt die beeindruckende Geschichte Gräfin Ernestines von Sayn und Wittgenstein von 1636 bis 1652, welche wohlbehütet aufwächst, bis ihr jüngerer Bruder, und somit der letzte männliche Erbfolger, stirbt. Es beginnt ein harter und langer Kampf um die Grafschaft, welcher Hunger, Flucht und Gefangenschaft mit sich zieht.

Das Cover zeigt die Gräfin in einem dunklen Raum, vor ihr drei leuchtende Kerzen, ein schwacher Lichtschein, ein kleiner Hoffnungsschimmer. Dies beschreibt sehr gut die Grundstimmung des Buches.

Positiv fiel mir zunächst auf, dass der Roman ist in vier Teile gegliedert ist, welche wiederum mehrere Kapitel beinhalten. Die einzelnen Kapitel haben kurze, wirklich treffend gewählte Titel, welche einen ersten Einblick in das Geschehen oder die vorherrschende Emotion geben und somit schon vor dem Lesen des jeweiligen Kapitels Spannung erzeugen.

Spratte hat sich dafür entschieden, die Geschichte nicht aus der Sicht der berühmten Hungergräfin, sondern aus der ihrer Tochter zu erzählen. Dabei schreibt sie in der ersten Person Singular und der Leser erhält ein gutes Bild ihrer Gedanken- und Gefühlswelt.
Gut gelungen finde ich dabei, wie diese Gedanken anfangs kindlich wirken und im Laufe des Buches zusammen mit der Protagonistin immer erwachsener und reifer werden und trotzdem stets menschlich und nachvollziehbar bleiben. Somit wächst einem Ernestine schnell ans Herz und man kann ihre Gemütsbewegungen gut nachfühlen.

Der Roman ist auf die wichtigsten Geschehnisse in dieser Zeitspanne von 16 Jahren fokussiert, diese sind dafür umso intensiver erzählt und es entstehen so gut wie keine Längen.
Die Autorin hat es gut geschafft, dass man verstehen kann, wie und wieso sich alles entwickelt hat und gerade Ernestines beeindruckende Entfaltung ist absolut gelungen: von einem etwas arroganten, verwöhnten Kind zu einer intelligenten jungen Frau.
Aber auch die Sturheit und der Kampfgeist ihrer Mutter sind imponierend, sie hat in jeder Situation noch Hoffnung und gibt nicht auf, egal, was andere sagen und denken.
Dabei langweilt die Autorin nicht mit geschichtlichen Zahlen und Fakten, sondern stellt stets das Empfinden Ernestines in den Vordergrund. Sie hält sie sich größtenteils an die gut recherchierten historischen Hintergründe, abweichende Passagen sind im Nachwort erklärt.

Außerdem hat sie einen sehr angenehmen, natürlichen Schreibstil, nicht aufgesetzt wie es in einigen anderen historischen Romanen vorkommt, trotzdem der Zeit angemessen. Man kann das Buch gut und flüssig durchlesen. Mit wenigen Worten schafft sie es, einen 400 Jahre in der Zeit zurückzuversetzen, man bekommt einen lebendigen Eindruck vom Dasein während des 30-jährigen Krieges.

Einen kleinen Kritikpunkt habe ich allerdings: Es fehlt ein richtiger Höhepunkt in der Geschichte, so herrscht stetig ein gleichbleibendes Spannungslevel, es gibt keine Höhen und Tiefen. Man hätte zum Beispiel einen stärkeren Fokus auf die Zeit der Gefangenschaft, welche den Titel "Hungergräfin" mit sich brachte, legen und hier etwas mehr Dramatik einbringen können.

Insgesamt empfehle ich das Buch allen Fans von historischen Romanen und von imponierenden Geschichten von Frauen, die ihrer Zeit weit voraus waren.