Schwierige Zeiten

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heike lohr Avatar

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Anette Spratte hat ein unterhaltsames Buch über schwer wiegende historische Ereignisse geschrieben. Gleichzeitig macht dieses spannende und psychologisch sowie geschichtlich gut recherchiertes Buch viel vom Wesen der Politik, politischem Durchhaltevermögen und integrer Menschenführung klar und transparent.
Die verschiedenen Handlungsebenen möchte ich als begeisterte Leserin auf drei beschränken, die eben genannten zwei die politische, historische und neu dazu die private, die sich auf die adelige Ebene fokussiert. Dabei aber werden aus dieser privilegierten Sicht auch die anderen Stände und deren Lebensumstände berücksichtigt.
Was sich zuerst wie ein Entwicklungsroman liest, wird im Laufe der fortschreitenden Erzählung aus Sicht der Protagonistin Ernestine Salatine von Sayn Wittgenstein erzählt zu mehr als nur einem Liebesroman. Ihre schwärmerische Liebe zu Korporal Quast erfüllt sich nicht in ihrem Sinne. Ihre Zofe Catherina scheint nur mit Liebe zu ihm erfüllt zu sein. Sie erweist sich dann nicht einmal mehr als Freundin von Ernestine noch als loyal zur Familie. Andererseits hat Ernestines Mutter einmal die Schweden zu Hilfe geholt gegen ihre nachbarlichen Widersacher. Leider waren es diese schwedischen Soldaten, die Catherinas Familie getötet haben.
Die entscheidende Entwicklung und der Ausgangspunkt der Geschichte beginnt mit dem Tod von Ernestines Bruder, wobei ihr Vater schon länger tot ist.
Nur jetzt ist die Erbfolge zwar testamentarisch von ihrem Vater geregelt, dass seine Töchter das Land und die Herrschaft übernehmen sollen Doch wir befinden uns im 17. Jahrhundert, somit galt dieser emanzipatorische Ansatz nicht viel, was Freunde, Feinde und Widersacher betraf. Im ersten Trauerschmerz hat Ernestines Mutter einem entfernten Verwandten die Grafschaft übertragen. Sie kann diese Übertragung juristisch wieder zurücknehmen, wird jedoch vom Bischof belagert.
Deshalb heißt es für alle hungern. Denn die Nahrungszufuhr wird durch die Belagerer verhindert. Daher kommt dann der sprechende Name „Die Hungergräfin“. Daraus leitet sich folgerichtig der Titel des Romans ab: „Die Tochter der Hungergräfin“.
Über diese Tochter ist in den erhaltenen Dokumenten aus dieser Zeit nicht viel überliefert, womit die Autorin sich informiert und einfühlsam in die Zeit, die Seele dieser mehr namentlich bekannten Junggräfin – denn es gibt kaum erhaltene Zeugnisse die über ihre näheren Lebensumstände Auskunft geben – hineingelebt und geschrieben hat.
Das Ergebnis ist lesenswert, unterhaltsam, lehrreich und ungemein berührend. Ich habe das Buch kaum aus der Hand legen können, so sehr hat es mich gefangen genommen. Die Personen sind lebendig, die Fehlinterpretationen von Ereignissen und Personen von Seiten der Tochter der Hungergräfin bringen eine Spur der Erzähltechnik eines guten Krimis hinein. Die Ansichten über Gut und Böse werden relativiert, im Sinne einer großen Fürsorgepflicht für die Untertanen und Verständnis für deren Not. Es geht dabei um so viel Einfühlungsvermögen, Verständnis und Engagement, was man sich oft in der heutigen Politik wünschen würde. Das Cover mit der Frau vor dem vergittertem Fenster gibt gut die Situation der Hungergräfinnen wider. Die Familie von und zu Sayn Wittgenstein gehört auch bis zu einem gewissen Grad zur österreichischen Geschichte ebenso wie der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein.