Eine turbulente Woche in Paris mit dem eigenwilligen Inspektor Giral

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schneeglöckchen_gk Avatar

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In diesem historischen Kriminalroman begleitet man den französischen Inspektor Édouard neun Tage lang bei seinen Ermittlungen durch Paris. Es ist die erste Woche der deutschen Besatzung, unter deren Einfluss fortan alles steht. Gegen alle Widerstände zieht Eddie eigenwillig sein Ding durch und nimmt die Ermittlungen zum Tod von vier polnischen Flüchtlingen und einem erweiterten Selbstmord auf. Im Laufe der Geschichte kommen zahlreiche Akteure aus nah und fern hinzu und das Geflecht der konkurrierenden Gruppierungen innerhalb der Deutschen Besatzer rückt immer mehr in den Vordergrund. Das ausgestorben leere Paris bietet dabei eine atmosphärische Bühne für Édouard Girals Kampf gegen das Verbrechen und seine persönlichen Tragödien.


Die Kapitel, die jeweils einen Tag umfassen, geben der Geschichte ihre Struktur. Unabhängig davon gibt es für mich verschiedene Phasen innerhalb des Buches. Bezogen auf den zentralen Protagonisten, ist der Anfang der Geschichte geprägt von Andeutungen zum Ersten Weltkrieg und man ahnt, dass Eddies Kriegstrauma eine prägende Rolle spielt. Nach und nach erfährt man mehr über seine Erlebnisse und deren Folgen.
Bezogen auf die Ermittlungen zu den Morden und dem Selbstmord scheint der Inspektor zu Beginn ins Blaue hinein zu ermitteln. Er verfolgt alle möglichen Hinweise, ohne einen konkreten Verdacht zu haben. Diese Phase dauert angemessen lange, bevor sich zaghaft einige Verbindungen entpuppen. Trotzdem wird kein wirklicher Plan ersichtlich und selbst als Eddie an einer Stelle ein riskantes Vorhaben ins Auge fasst, geht diese Absicht schnell im darauffolgenden Geschehen unter. Es bleibt also alles sehr vage und zunehmend treten die Ermittlungen hinter die Verstrickungen zwischen den zahlreichen Protagonisten untereinander zurück. Leider hat dies dazu geführt, dass ich gegen Ende den Durchblick verloren habe und es nicht diesen einen Moment gab, in dem sich alles auflöst und der Täter eindeutig identifiziert wird.
Die Frage, wem man trauen kann, wie unter den damaligen Umständen überhaupt Ermittlungen möglich waren und immer wieder auch die Ahnungslosigkeit über Édouards Absichten – verbunden mit der gleichzeitigen Neugier darauf – haben den Roman für mich fesselnd und spannend gemacht. Allerdings mindert die beschriebene Konfusion gegen Ende mein Gesamturteil.

Die vielen Charaktere sind interessant konstruiert und ich habe durchaus eine starke Bindung zu einigen aufgebaut. Allen voran natürlich zu Eddie, der zentralen Figur dieses historischen Krimis.
Der Inspektor ist von Widersprüchen geprägt! Zum einen lebt er mit einem unverarbeiteten Kriegs-Trauma, neigt zu handgreiflichen Auseinandersetzungen und hatte ein Drogenproblem. Auf der anderen Seite interessiert er sich für Bücher, Architektur sowie Parks und zeigt gelegentlich seine empathische Seite. Obwohl er sich öffnet, man tiefe Einblicke in Édouards Vergangenheit und seine Empfindungen bekommt und ihn gut kennen lernt, ist parallel auch stets eine gewisse Distanz vorhanden, wodurch er immer interessant bleibt. So hat mir z.B. gut gefallen, wie Eddie sich in den polnischen Mann hineinversetzt, der Suizid begangen hat und dessen Spuren verfolgt. Gleichzeitig weiht er die Leser aber nie in all seine Überlegungen zu den Ermittlungen ein, sodass man ihm stellenweise blind folgen muss, was für mich die Spannung aufrecht erhalten hat.
Diese Dualität ist allgegenwärtig und absolut prägend. Inspektor Giral lässt sich einerseits von seinen Gefühlen leiten, analysiert andererseits aber auch die Spielchen seiner Gegner und agiert rational. Er ist ein brutaler Schläger, der heftig austeilt. Er setzt sich aber auch für andere ein und muss dafür mindestens genau so viel einstecken. Den Deutschen (und Vorgesetzten) gegenüber verhält sich Eddie oft impulsiv und leichtsinnig, wenn er ihnen gewagte Aussagen scheinbar unverfroren ins Gesicht sagt. Andererseits mischt er auch sehr kühl und berechnend in den Machtspielen der Besatzer mit – und droht, nicht nur einmal, darin zerrieben zu werden.

Auch wenn das Verhältnis zu den Boches (und ihre Querelen untereinander) das Buch größtenteils dominieren, so spielen zahlreiche weitere Beziehungen eine gewichtige Rolle im Verlauf der Geschichte. Hier sind der Sohn Jean-Luc zu nennen, genauso wie die ausländische Journalistin Ronson oder der deutsche Major Hochstetter. Diese Vielschichtigkeit hat mich begeistert!

Der Schreibstil gefällt mir gut und lässt sich leicht und flüssig lesen. Durch die Kombination von Dialogen in direkter Rede und erzählenden/beschreibenden Passagen ist der Text abwechslungsreich. Zu Beginn werden Personen einige Male durch Vergleiche beschrieben, welche mir unbekannt sind. Dies verliert sich allerdings im weiteren Verlauf, wodurch die Verständlichkeit und das Kennenlernen der Charaktere nicht weiter leidet. Ebenfalls hauptsächlich im vorderen Teil des Buches empfinde ich die Wortwahl als sehr modern, wodurch ich mir stellenweise ins Gedächtnis rufen musste, dass das Buch im Jahr 1940, also vor über 80 Jahren spielt.
Ein weiterer stilistischer Kritikpunkt sind für mich die Rückblenden ins Jahr 1925, die jeweils zwischen den Kapiteln platziert sind. Sie könnten für Eddies Alpträume und somit die Nächte zwischen den einzelnen Tagen stehen. Da sie aber mehrmals zum selben Abend zurück gehen, dessen Bedeutung ich für das Verständnis der Geschichte ich als gering einschätze, erschließt sich mir die herausgestellte Position nicht. Denn auch innerhalb der alltäglichen Schilderungen gibt es immer wieder einen Exkurs in die Vergangenheit, sodass alle Erinnerungen dort untergebracht werden könnten.
An die satte Schriftart habe ich mich schnell gewöhnt und empfinde sie als passend, da es wirkt als wären auch die Worte im Buch von den dunklen Rußwolken der brennenden Raffinerie vor Paris überzogen. Das Titelbild des Eiffelturms in schwarz-weiß passt zu der generell düsteren Zeit, in der die Geschichte spielt. Außerdem spiegelt es gut wider, dass die Leser der Hauptfigur in zahlreiche dunkle Orte der Stadt folgen und die Nacht prägenden Einfluss hat.


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der historische Anteil in diesem Buch sehr ausgeprägt ist und gegenüber dem kriminologischen Teil überwiegt. Es handelt sich weniger um einen klassischen Krimi, bei dem die Leser durch gezielte Hinweise selbst Miträtseln können, als um eine opulente Erzählung mit mehr oder weniger klaren Erzählsträngen und einem dichten Beziehungsgeflecht.
Für alle, die, wie ich, das Buch vor allem aus geschichtlichem Interesse heraus wählen, kann ich es nur empfehlen und finde es eine gelungene Kombination. Allerdings sollte dieser Roman sehr aufmerksam gelesen werden, um am Ende nicht den Durchblick zu verlieren.
Die Einblicke in die Vormachtkämpfe zwischen den Gruppierungen innerhalb der deutschen Besatzer waren sehr informativ. Ähnlich lehrreich fand ich es, zu erfahren, wie schwer es damals für Augenzeugen war, die Weltöffentlichkeit von den Grausamkeiten der Nazis zu überzeugen - mit dem heutigen Wissen über den Holocaust unvorstellbar.