Historischer Kriminalroman vom Allerfeinsten

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marionhh Avatar

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Am 14. Juni 1940 überschlagen sich in Frankreich die Ereignisse: Die Nazis marschieren in Paris ein, die französische Regierung hat sich zurückgezogen und überlässt die Hauptstadt der Franzosen den Besatzern. Viele tausend Menschen sind auf der Flucht. In der menschenleeren Stadt untersucht Inspektor Édouard Giral, Kriegsveteran mit Hang zur Selbstzerstörung, den Tod von vier Unbekannten am Gare D’Austerlitz und einen vermeintlichen Selbstmord. Einzige Übereinstimmung: die Stadt Bydgoszcz in Polen. Nicht nur muss Giral seine Vorgesetzten überzeugen, dass ein Zusammenhang besteht, und sich mit Nazi-treuen Mitarbeitern herumschlagen, er bekommt es zu allem Überfluss mit der Gestapo, der Wehrmacht, dem deutschen Geheimdienst und Major Hochstetter von der Abwehr zu tun, der, offiziell als Mittler eingesetzt, seine eigenen undurchsichtigen Strippen zieht. Dann taucht auch noch Girals Sohn Jean-Luc auf, und in seinem Versuch, seinen Sohn zu beschützen, die Morde aufzuklären und am Leben zu bleiben, gerät Giral vollends zwischen alle Fronten.

Dieser historische Kriminalroman ist herausragend und lässt einen über weite Teile sprachlos und erschüttert zurück. Er liefert ein authentisches Bild der Ereignisse in Paris am Tag des Einzugs der deutschen Besatzer und in den Tagen unmittelbar danach, gibt tiefe Einblicke in das zerstörte Seelenleben des Kriegsveteranen Édouard „Eddie“ Giral und bohrt skrupellos in den Wunden einer zutiefst verstörten Stadt. Das normale und öffentliche Leben steht weitgehend still, Verordnungen gelten für Franzosen, nicht aber für Deutsche, die Besatzer überwachen jeden Schritt und der physische und psychische Druck auf die Einheimischen lässt viele straucheln und zusammenbrechen. Der Rest kämpft darum nicht aufzufallen. In einem Umfeld der Angst und des Misstrauens nun soll Giral, selbst traumatisiert und selbstmordgefährdet, nun Morde an Menschen aufdecken, die sowohl Deutschen als auch Franzosen herzlich egal sind. Wer sind schon ein paar Polen, die auf der Flucht getötet wurden, und ein weiterer, der sich mit seinem kleinen Sohn vom Balkon gestürzt hat, wenn in Paris gerade alles den Bach hinuntergeht?

Giral indessen kämpft gegen seine eigenen Dämonen. Schwer traumatisiert von seinen eigenen Kriegserlebnissen, hat er seine Familie verlassen und lebt als einsamer Wolf, unberechenbar in seiner Wut und in seinem Wüten. Er verliert sich häufig in der Vergangenheit, taucht ein in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges und in die Ereignisse im Jahr 1925, holt diese Ereignisse sukzessive ans Tageslicht, bis sie auch in der Gegenwart eine Rolle spielen. Eines kann er aber nicht lassen: die Wahrheit zu finden, egal was es kostet. Meines Erachtens lenkt ihn die Spurensuche und Recherche auch zu einem nicht unerheblichen Teil von seinen eigenen Kümmernissen ab, und mitunter scheint er die Repressalien der Deutschen, egal aus welchem Lager, gar zu genießen. Er scheint zu glauben, dass er dies verdient habe, dass es eine Art Buße darstellt.

Giral ist ein äußerst zwiespältiger Charakter, er ist sowohl stark als auch schwach, er polarisiert mit seinen Äußerungen und seinem Handeln. Er tritt Besatzern, Vorgesetzten und Mitarbeitern gleichermaßen schnoddrig gegenüber, ihm scheint alles egal, er provoziert und steht seinem eigenen Dasein scheinbar gleichgültig gegenüber. Dann wieder erweist er sich als wahrer Menschenfreund, nicht nur in seinen Bemühungen die Wahrheit zu finden und den Getöteten gerecht zu werden, sondern auch in seinen Versuchen, den Gestrandeten und Flüchtlingen zu helfen und natürlich in seinem absoluten Wunsch seinen Sohn zu beschützen. Er versucht auf vielerlei Weise seine Schuld zu sühnen. Seine herausragende Intelligenz lässt ihn manch brenzlige Situation meistern, und sein Instinkt lässt ihn oft das richtige tun, dann wieder vergisst er sich derart, dass er um seine Handlungen nicht mehr weiß. Interessanterweise trifft dies dann aber meist die Richtigen.

Leicht liest er sich nicht, dieser Kriminalroman, was aber nicht an dem gehobenen und eingängigen Schreibstil des Autors liegt. Man muss sich auf die Zeit und auf die zwiespältigen Figuren einlassen, die Ungerechtigkeit ertragen, und auch die Lösung ist alles andere als regelkonform und befriedigend. Es ist eben kein Nullachtfünfzehn-Buch, auch kein „historischer Krimi“ nach genrebekannter Machart. Der Fall selbst und seine Aufklärung tritt zwischendurch in den Hintergrund, zu sehr ist Giral damit beschäftigt, zwischen seinem Sohn, seiner Vergangenheit, den Menschen, denen er helfen will und denen, die er am liebsten töten würde, hin und her zu springen. Die eher sperrigen Charaktere sind nicht alle nur gut oder nur böse, aber alle sind undurchsichtig und nicht nur Hochstetter ist „enigmatisch“, wie es der Klappentext treffend beschreibt. Trauen kann man eigentlich niemanden, und durchaus deprimierend an der ganzen Sache ist, dass die wahrhaft Schuldigen davonkommen. Kleine Siege gibt es aber dennoch, und die sind es, die zählen.

Fazit: Großartiger, tief bewegender und überaus fesselnder Kriminalroman, der lange nachhallt. Meines Wissens von Chris Lloyd das erste Buch, das auf Deutsch erscheint, aber hoffentlich nicht das letzte. Ein Protagonist, der zwar kein hundertprozentiger Sympathieträger ist, dessen Stärke und Schwäche, Loyalität und Gerechtigkeitssinn einen aber zutiefst bewegt. Ein Autor, der Ereignisse und die Abgründe der menschlichen Seele schockierend und bildhaft darzustellen vermag und den man sich unbedingt merken sollte!