Ein Jahreshighlight!

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fraedherike Avatar

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„Jeder trägt seinen eigenen Wald in sich, den er in- und auswendig kennt und der ihm Geborgenheit gibt. Und einen eigenen Wald zu haben, ist das Schönste, was es gibt. Wenn du oft genug durch diesen Wald läufst, kennst du bald jeden Stein, jeden schwierigen Weg, jede umgeknickte Birke darin. Und dann ist es dein Wald, dann gehört er dir.“ (S. 62)

Eigentlich wollten sie nie wieder an diesen Ort zurückkehren, den Ort, der alles veränderte, ihre Kindheit prägte. Doch als ihre Mutter nach langer Krankheit verstirbt, beugen sich die Brüder Benjamin, Pierre und Nils ihrem letzten Willen, dass ihre Asche am Holzhaus am See verstreut würde. Und ist das sie dorthin führende Ereignis nicht schon aufreibend genug, fördern der See, der Birkenwald, der muffige Geruch des alten Hauses Erinnerungen zutage, die sie lange verdrängt hatten. Einst waren die Brüder unzertrennlich, von Grund auf unterschiedlich zwar, aber wenn es drauf ankam, hielten sie zusammen – besonders im Kampf um die Liebe ihrer abweisenden, wechselhaften Mutter. Werden nun gerade sie, oder vielmehr: ihr Tod, und die Erinnerungen an die alten Zeiten es vermögen, die Brüder wieder aufeinander zu gehen zu lassen?

In seinem Roman „Die Überlebenden“ (OT: Överlevarna, aus dem Schwedischen von Hanna Granz) entspinnt Alex Schulman eine unglaublich emotionale, verworrene und mystisch anmutende Familiengeschichte, die mit einer melancholischen, nordischen Atmosphäre daherkommt und mich mit der humorvollen, oftmals auch ernsthaften, traurigen Sprache und einem grandios konzipierten Handlungsaufbau von der ersten Seite an begeisterte. Was für ein Satz, erstmal Luft holen. Abwechselnd beschreibt Schulman eine Szene der Kindheit der Jungen und ihr gegenwärtiges Zusammentreffen, und wie er das macht, ist bemerkenswert: Während die Erinnerungen einem chronologischen Schema folgen, erleben wir die Gegenwart vom Ende des Tages rückläufig bis zum zugehörigen Sonnenaufgang. Dabei hat mir besonders gefallen, wie jedes Kapitel mit dem jeweils letzten Absatz des später folgenden Kapitels beginnt und so den roten Faden wiederaufnimmt. Zur Handlung selbst möchte ich nun nicht viel mehr verraten, das würde ihr die Spannung und den Überraschungseffekt nur nehmen, denn der Höhepunkt des Psychodramas ließ mich zusammenzucken und gegen den Kloß im Hals ankämpfen. Wow.

Schulman hat mit den Brüdern drei tolle, charakterstarke Protagonisten gezeichnet und ihre jeweiligen Stärken und Schwächen feinfühlig in die Handlung eingebunden. Ein jeder hat eine unterschiedliche Wahrnehmung seiner Kindheit, doch sie alle verbindet die Fassade, hinter der sie von ihren Eltern aufgezogen wurden, und die jedes Bild, das der Autor illusorisch erzeugt, allmählich zum Zerfallen bringt. Wie ein quälend langsamer, dunkler Schatten legt sich die Erkenntnis allmählich über die heile Welt und lässt die Risse umso heftiger, rauer erscheinen.

„Die Überlebenden“ ist wahrlich keine leichte Kost, vielmehr ein Buch, dem man sich mit der nötigen Zeit und Aufmerksamkeit widmen sollte, um all die Emotionen, die Handlungen zulassen und vollends in der Handlung aufgehen zu können. Während meiner Reise nach Schweden sind mir immer wieder Szenen des Buches vor Augen getreten, wann immer ich ein Birkenwäldchen gesehen habe, Butterblumen am Wegesrand oder am Ufer eines Sees stand – und wenn ein Buch mich selbst in Zeiten der Ruhe und Entspannung noch hat, dann ist es ein wahres Herzensbuch. Ich danke meinem Lesereise-Partner, dem lieben @herrfabel, für den tiefsinnigen, intensiven Austausch, die gemeinsamen Lacher und Gänsehautmoment - tack så mycket! 🇸🇪