Zurück in die Vergangenheit

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leukam Avatar

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Der schwedische Autor Alex Schulman ist in Deutschland bisher ein Unbekannter ( das dürfte sich nach diesem Roman ändern). In seiner Heimat hat er sich als Fernsehmoderator, Blogger und Schriftsteller einen Namen gemacht. Sein Memoir „ Glöm mig“ über seine alkoholkranke Mutter wurde 2017 in Schweden zum Buch des Jahres gewählt. „Die Überlebenden“ ist sein Debutroman.
Drei Brüder treffen sich nach Jahren wieder am ehemaligen Ferienhaus der Familie, um den letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen. Ihre Asche soll am Ufer des Sees verstreut werden.
Dieser Erzählstrang, der in der Gegenwart spielt, wechselt kapitelweise mit dem Rückblick in die Vergangenheit. Damals verbrachte die Familie jedes Jahr den Sommer an ihrem abgelegenen Ferienhaus am See. Trotz der malerischen Landschaft ist es keine Idylle, die hier beschrieben wird. Beide Eltern sind Alkoholiker; sie verbringen ihre Tage trinkend mit Blick auf das Wasser. Die drei Jungs, die zu Anfang dreizehn, neun und sieben Jahre alt sind, bleiben meist sich selbst überlassen. Sie versuchen zwar immer wieder die Aufmerksamkeit der Eltern zu bekommen, doch das klappt oft nur kurz. Der Vater animiert die Söhne zu waghalsigen Unternehmungen, um gegenseitig in Konkurrenz zu treten, aber das Ergebnis interessiert ihn schon nicht mehr. Die Mutter ist launisch und unberechenbar, ihre Strafen sind grausam. Die Jungs entwickeln unterschiedliche Strategien, um mit der Situation klarzukommen. Benjamin, der mittlere der drei Brüder, hält sich ständig in der Nähe der Eltern auf, beobachtet und belauscht sie und registriert wie ein Seismograph deren wechselnde Stimmungen. Nils, der Älteste, sondert sich ab, blendet das Familienleben weitgehend aus, während Pierre aggressiv und brutal wird.
Der Leser leidet mit den Kindern und ist entsetzt über das Verhalten der Eltern. Es gibt zwar unbeholfene Versuche von Vater und Mutter, Nähe herzustellen, aber meist sind sie viel zu betrunken, um ihrer Aufgabe als Eltern nachzukommen.
Der Leser erfährt dies alles aus der Perspektive Benjamins und bekommt so einen tiefen Einblick in dessen Seele. Sein anfangs noch kindlicher Blick berührt und bewegt. Es liegt eine unterschwellige Trauer über allem. Irgendetwas muss geschehen sein, woran die Familie schließlich ganz zerbrochen ist. Weshalb sind sich die Brüder mit den Jahren so fremd geworden? Am Ende wartet der Autor mit einer unvorhergesehenen Wendung auf, die dem Leser erstmal den Atem nimmt. Doch dann fragt man sich, ob es diesen Schock überhaupt gebraucht hätte. Das Ganze lässt sich auch als die Geschichte einer dysfunktionalen Familie lesen.
Aber unabhängig davon, wie man das Ende bewertet, ist Alex Schulman ein großartiger Roman gelungen.
Seine Sprache überzeugt mit präzisen Schilderungen, einprägsamen Bildern und einem eigenen Rhythmus. Er schafft Spannung und eine eigentümliche Stimmung. Seine Figuren sind in ihrer Gebrochenheit glaubhaft, vielschichtig und psychologisch interessant.
Besonders ist die Struktur des Romans. Während die Gegenwartsebene, der Tag der Urnenbeisetzung, rückwärts erzählt wird, sind die Kapitel, die in der Vergangenheit spielen, chronologisch angelegt, so dass sich beide Ebenen langsam annähern und treffen. Das erzeugt eine ungewöhnliche Dynamik.
„ Die Überlebenden“ ist ein literarisch gelungener Roman über Verletzungen und Traumata in der Kindheit, die bis ins Erwachsenenalter weiterwirken. Dass nicht alle Fragen beantwortet werden und so Raum bleibt für eigene Interpretationen, beurteile ich im Nachhinein positiv. Das Ende ist versöhnlich.