Wanderl̶u̶s̶t̶frust

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zopfmadame Avatar

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Um ehrlich zu sein, eine Inhaltsangabe für "Die unendliche Reise der Aubry Tourvel" zu schreiben, fällt mir ziemlich schwer. Die Prämisse der Geschichte lautet: eine Frau leidet an einer seltsamen Krankeit und kann dadurch nie länger als ein paar Tage am Stück am selben Ort sein; deshalb ist sie also gezwungen, kreuz und quer über den Globus zu reisen. Viel mehr kann bzw möchte ich zur Handlung auch nicht sagen, denn das Buch fällt definitiv in die Kategorie "no plot, just vibes". Ist das schlecht? Nun, wenn man actionreiche Bücher mit zahlreichen Plot-Twists liebt, dann wird Douglas Westerbekes Erstlingswerk diese Gelüste wahrscheinlich nicht stillen können. Wenn man aber ein Buch lesen möchte, welches mit einer willensstarken Protagonistin und einem wunderschönen Sprachstil besticht, dann wird man bei "Die unendliche Reise der Aubry Tourvel" definitiv auf seine Kosten kommen.

Besonders hervorheben möchte ich die Art und Weise, wie die Protagonistin beschrieben ist; denn das empfinde ich als sehr gelungen.
Ist Aubry zu jeder Zeit und in allen Situationen liebenswürdig oder "nett"? Nein, absolut nicht - und genau das mochte ich sehr an ihr. Sie ist kein "liebes Mädchen", welches (wortwörtlich) der ganzen Welt gefallen will. Sie hat Ecken und Kanten und agiert immer wieder mit einer enormen Härte. Doch genau das machte Aubry für mich sympathisch, denn genau diese Härte braucht sie, um mit ihrer Krankheit realistisch (über)leben zu können.
Als ich Mitten im Buch zufällig erfahren habe, dass der Autor ein Mann ist, war ich positiv überrascht - selten habe ich eine so authentisch weiblich geschriebene Protagonistin von einem männlichen Autor gelesen.

Generell ist der Schreibstil sehr malerisch, ich hatte das Gefühl gemeinsam mit Aubry im Dschungel zu jagen und über Gebirge zu klettern. Außerdem schafft Westerbekes eine total mystische Atmosphäre, man weiß nie, was einen im nächsten Satz erwartet.

Wo das Buch ein paar Abstriche macht, ist der Plot. Es gibt eine lose Rahmenhandlung, aber im Fokus steht doch weniger das Geschehen an sich, sondern mehr die Stimmung bzw. die Gefühle, welche an den einzelnen Orten aufkommen. Dass Westerbeke das Reisen in Aubrys Leben nicht romantisiert, wird schnell klar und auch Themen wie Identität, Verlust und die Suche nach dem Sinn des Lebens spielen in dem Buch eine Rolle. Insbesondere das Ende regt nochmals zum Nachdenken und Philosophieren (mitunter auch über die eigene Lebensreise) an.

Ich persönlich mag es in Bücher am Liebsten, wenn alle Handlungsstränge in sich geschlossen und alle offenen Fragen geklärt sind, das war bei diesem Buch nicht der Fall. Ich vermute aber, dass dies bei dem Genre "magischer Realismus" öfters so ist und man manche Gegebenheiten einfach als "logisch für diese Welt" annehmen muss.

Wer wird also Gefallen an diesem Buch finden? Menschen, die gerne das Genre "magischer Realismus" oder philosophisch angehauchte Bücher lesen. Viellesende, die mal etwas Neues ausprobieren möchten. Reiseliebende, welche mal wieder das Fernweh plagt. Und all jene, die am Ende eines Buches gerne etwas Interpretationsspielraum über die Bedeutung der Geschichte haben