Eine lange Reise zu sich selbst

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r.e.r. Avatar

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Maxwell Sim ist 48 Jahre alt und allein. Frau und Tochter haben ihn verlassen. Freunde hat er keine. Sein Vater, für den er eigens von London nach Australien geflogen ist, redet nicht mit ihm. Seinen Job hat er wegen seiner Depressionen aufgegeben. In dieser freudlosen Lage kommt ihm das Angebot seines ehemaligen Kollegen Trevor gerade recht. Um dessen umweltfreundliche Zahnbürsten zu vermarkten, soll Max eine Werbefahrt auf die Shetland Inseln unternehmen. Mit einem modernen Hybridfahrzeug macht er sich auf den Weg Großbritannien einmal von Süden nach Norden zu durchqueren. Da er sich mit Emma, dem Navigationsgerät mit der sympathischen Stimme, lieber unterhält als ihren Anweisungen zu folgen, gerät das Unternehmen schon bald außer Kontrolle. Und die Fahrt zu einer langen, skurrilen Reise zu den Wurzeln seiner Vergangenheit.

 

Jonathan Coe’s Buch besteht aus vier Teilen, oder besser gesagt vier Reiseabschnitten. Zunächst verlässt Max Australien wieder in Richtung Heimat Watfort. Dieser Beginn verläuft etwas zäh. Noch weiß man nicht genau, auf was der Autor hinaus will. Und die seitenlangen Gedankenmonologe des Ich-Erzählers Max strapazieren Geduld und Auge. Dafür wird man allerdings mit humorvoll spritziger Prosa entschädigt. Und mit vielen skurrilen Einfällen. Zum Beispiel unterhält sich Max im Flugzeug stundenlang mit seinem Sitznachbarn, bis ihn die Stewardess darauf aufmerksam macht, das dieser an einem Herzinfarkt gestorben ist.

 

Kurzweilig sind die Texte im Text. Alle vier Teile des Buches enthalten eine Geschichte, die nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben. Diese Einheiten sind wunderbar eingeflochten und von großer erzählerischer Kraft. Die erste befasst sich mit dem Leben und Sterben des Seglers Donald Crowhurst, der für Max zur Identifikationsfigur wird. Auch er sieht sich am Ende seiner Reise als einsamen Weltumsegler. Die anderen Geschichten beleuchten Aspekte aus Max Vergangenheit, die der Ich-Erzähler lieber verschweigen will. Die Episode mit der Brennesselgrube (erzählt von seiner Frau Caroline), die Begebenheit mit dem geknickten Foto (berichtet von seiner ersten Liebe Alison) und den Grund für seine Existenz (wiedergegeben in einer berührenden Lebensbeichte seines Vaters Harold).

 

Jedes Mal wenn Max eine dieser Geschichten gelesen hat, fühlt er sich elender, aber auch dem Grund seines Wesens näher. Nicht nur der Leser lernt ihn besser kennen, er sich selber auch. Das ist witzig und traurig zugleich. Coe schreibt einfühlsam ohne ins rührselige abzugleiten. Seine Sprache ist poetisch und bildhaft. Seine nostalgischen Erinnerungen sind so plastisch, als wären es die eigenen. “Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim” ist ein Buch das immer wieder zur Hand nehmen kann um darin zu schmökern.

 

Jedes Kapitel entwickelt eine ganz eigene Dynamik. Scheinbar zusammenhanglose Ereignisse erhalten eine Bedeutung, die verblüfft und neugierig macht. Scheinbar unwichtige Nebenfiguren tauchen an den ungewöhnlichsten Stellen wieder auf und haben plötzlich einen wesentlichen Anteil am Geschehen. Nebensächliche Handlungen erhalten in einem anderen Zusammenhang eine tragende Bedeutung. Wie ein Puzzle setzt sich vor den Augen des Lesers das Leben von Max mit seinen unergründeten Tiefen zusammen. Und als Leser will man unbedingt hinter das letzte Geheimnis kommen, das immer wieder nur angedeutet wird. Warum kann Max sich selber nicht leiden?

 

Darüber hinaus bietet der Autor eine Fülle philosophischer Gedanken. Er beschreibt Missstände unserer Zeit und verbindet diese mit moderner Gesellschaftskritik. Fehlende zwischenmenschliche Kommunikation liegt ihm dabei besonders am Herzen. Wieder mehr reden statt mailen, scheint sein Motto zu sein.

 

“Alles ist Windhauch. Jeden treffen Zufall und Zeit. Alles hat seine Stunde und für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.” Diese Worte aus dem Buch Kohelet der Bibel gingen mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf. Vielleicht weil Max Reise einem zuerst ziel- und planlos erscheint. Und sich der tiefere Sinn erst nach und nach enthüllt. Am Ende allerdings ist er bei sich selbst angekommen. Auch wenn er dafür ein paar, für den Leser sehr vergnügliche, Umwege in Kauf nehmen musste.