Varianten eines Lebens

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Der Roman „Die Unvollendete“ von Kate Atkinson handelt von Ursulas Todds Leben, das sie immer und immer wieder auf unterschiedliche Weise lebt. Dabei werden die verschiedensten Etappen von ihrer Geburt im Jahr 1910 über Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter unterteilt in mehrere Episoden durchlebt. Ursula selbst weiß nicht, dass sie ihr Leben wiederholt, sondern kann nur durch „Déjà-Vu“-Gefühle ihre vorherigen „Fehler“ verhindern.
Dieses Buch behandelt ein Thema, das nachdenklich macht, und zeigt, dass perfektes Leben unmöglich ist. Es macht aber auch deutlich, dass Leben trotz bestimmter Entscheidungen ähnlich verläuft, wie eine Art Schicksal, bei dem es immer parallele Linien gibt. Deutlich wird, dass durch die Änderungen, die Ursula in ihrem Leben vornimmt, auch das Leben anderer Menschen beeinflusst wird. Die Thematik wird gut behandelt und die Leben sind nicht übertrieben positiv dargestellt, wie das gern üblich ist, sondern realistisch.
Die Thematik wird jedoch nicht auf humoristische Art à la „Täglich grüßt das Murmeltier“ umgesetzt, sondern wesentlich ernsthafter behandelt. Es handelt sich um keine seichte Unterhaltungsliteratur, sondern um ein recht anspruchsvolles Buch, das sich nicht als Zwischendurchlektüre eignet, sondern aufmerksam verfolgt werden sollte, da allein schon die Zeitsprungproblematik vom Leser verlangt, den Überblick zu behalten.
Weiterhin setzt die Autorin Wissen aus Literatur voraus, so heißt es beispielsweise: „Sie hatte einen Edward Casaubon geheiratet“ (261). Trotz der anspruchsvollen Schreibweise, lässt sich das Buch aber dennoch gut lesen.
Stilistisch auffällig sind Einschübe/Kommentare in Klammern, die den Leser auch Schmunzeln lassen, wie beispielsweise: „Hugh blinzelte angesichts so unverblümter Ausdrücke, die seiner vor kurzem noch jungfräulichen (vermutlich, hoffentlich) Braut über die Lippen kamen“ (29), „für einen ähnlichen Notfall (der sehr unwahrscheinlich war)…“ (19) „Bridget und Sylvie kochten (ziemlich schlecht)…“ (36)
Die Charaktere sind liebevoll ausgearbeitet und wirken real – von der siebenköpfigen Familie Todd über die Hausangestellten bis hin zu Bekannten, die immer wieder auftauchen.
Die Geschichte spielt zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts und somit spielen auch die beiden Weltkriege eine Rolle. Durch die geschichtlichen Einflüsse - insbesondere des 2. Weltkriegs, der intensiv als Station in Ursulas Leben behandelt wird und somit das Leben zu der Zeit zeigt - kommen auch Freunde von historischen Romanen auf ihre Kosten, wenn dies auch nicht im Fokus steht.
Eine durchweg spannende Geschichte für jeden, der diese Thematik und die Zeit interessant findet und sie nicht auf seichte Weise aufgearbeitet lesen möchte. Eines meiner persönlichen Lieblingsbücher.