Was wäre, wenn...

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
jiskett Avatar

Von

585 Seiten
Originaltitle: Life After Life

Buchrücken:
Man lebt nur einmal. Wirklich?
Ursula Todd kann ihr Leben wieder und wieder leben und so die Fehler, die sie macht, korrigieren. Sie glaubt, dass sie auf diese Weise das Schicksal für sich und ihre Familie zum Besseren wenden kann. Doch was ist ein perfektes Leben?

Inhaltsangabe (Klappentext) :
Was wäre, wenn man sein Leben wieder und wieder leben könnte, bis man schließlich alles richtig gemacht hätte? Wäre man dann ein glücklicher Mensch?
In einer eisigen Nacht im Jahre 1910 wird Ursula Todd geboren, um gleich nach dem ersten Atemzug zu sterben. Doch anders als andere Menschen erhält sie eine weitere Chance und wird erneut geboren: in eine äußerst britische Familie, die mit den herrlichsten Marotten ausgestattet ist und in deren Mitte Ursula mit ihrer "Fähigkeit" nicht weiter auffällt. Ganz im Gegenteil: Für ihre Mutter ist sie das Kind, das am meisten üben muss, um das Leben meistern zu können. Und so begegnet Ursula den seltsamen Ereignissen in ihrem Leben mit Neugierde, Humor und dem aufrichtigen Bestreben, alles richtig zu machen. Anders als andere muss sie nicht fragen: Was wäre, wenn? Ihr ist es gegeben, ihre Fehler und damit ihr Leben zu korrigieren. Dennoch erlebt sie Verlust, Verrat, Krieg und Tod. Was also soll diese Gabe? Ist es überhaupt möglich, sein Leben fehlerlos zu leben?

Die Autorin:
Kate Atkinson, 1951 in Dundee geboren, studierte Literaturwissenschaft und arbeitete zunächst in der Sozialbetreuung und als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Für ihren ersten Roman 'Familienalbum' wurde sie mit dem renommierten Whitbread First Novel Award ausgezeichnet. Mittlerweile stehen ihre Bücher regelmäßig auf den Bestsellerlisten in England und den USA. Mit ihrem letzten Roman 'Das vergessene Kind' zählte sie zu den Preisträgern des Deutschen Krimipreises 2012. Kate Atkinson lebt in Edinburgh.

Aufbau und Stil:
"Die Unvollendete" umfasst 585 Seiten und gliedert sich in zwölf 'Teile', die unterschiedlich lang sind und sich - was der Erzählart gegeben ist - ständig wiederholen. Diese Teile beziehen sich auf gewisse Abschnitte, beispielsweise spielt "Schnee" immer im November 1910, während "Seid tapfer" 1930 beginnt. Die einzelnen Teile sind noch einmal in mehrere Kapitel untergliedert, die als Überschriften das Datum der Handlung tragen. Manchmal ist ein genauer Tag angegeben, manchmal der Monat oder nur das Jahr. Da die Handlung sich zwischen 1910 und 1967 abspielt und immer verschiedene Zeitlinien präsentiert werden, kommt es zeitweise zu großen, nicht chronologischen Zeitsprüngen.
Geschrieben ist der Roman in der "Er-Form", auch wenn die Geschehnisse sich meistens auf Ursula beschränken und auch ihr Innenleben widerspiegeln.

Meinung:
»Die Zeit ist ein Konstrukt, in Wahrheit ist alles im Fluss, es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur das jetzt.« (552)

Wer hat sich nicht schon die "Was wäre, wenn...?"-Frage gestellt? Es kann unglaublich verlockend sein, darüber nachzudenken, was geschehen wäre, wenn man nur eine Kleinigkeit anders gemacht hätte. Natürlich ist das Grübeln sinnlos - man kann nichts mehr verändern, das geschehen ist -, aber dennoch stellt man sich diese Fragen: Was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte? Was wäre, wenn das ganze anders ausgegangen wäre? Und was wäre, wenn Hitler nie gelebt hätte...?

"Die Unvollendete" beschäftigt sich mit genau diesem Thema und spielt auf sehr unterhaltsame, interessante Weise damit. Die Protagonistin Ursula Todd muss sich diese Fragen tatsächlich nicht stellen: wann immer sie stirbt, kehrt sie in die Vergangenheit zurück und wird erneut geboren. Dadurch werden dem Leser viele, viele alternative Lebenswege präsentiert, die jedoch alle auf eines hinauslaufen: früher oder später stirbt Ursula und beginnt von vorne. In ihren "nächsten" Leben trifft sie immer andere Entscheidungen, teilweise sind es nur Kleinigkeiten, die sich verändern, teilweise sind es aber gravierende Dinge, die einiges beeinflussen.
Natürlich ist dies nach einer Weile verwirrend: vor allem, als das Buch sich dem Ende entgegen neigt, kann man sich nicht mehr sicher sein, was nun tatsächlich passiert ist oder was "rückgängig" gemacht wurde. Nichtsdestotrotz - oder gerade deswegen? - ist "Die Unvollendete" ein Roman, der von der ersten Seite an fesselt und fasziniert.

Ursula erlebt beide Weltkriege, den einen als kleines Kind, den anderen als Frau, die mitten im Leben steht. Dadurch, dass sie so viele verschiedene Lebenswege einschlägt, wird vor allem der Zweite Weltkrieg aus verschiedenen Perspektiven aufgearbeitet, die alle sehr glaubwürdig und authentisch sind. Man erfährt einige Details, die nicht sehr bekannt sind, die aber tatsächlich wahr zu sein scheinen, und der Krieg wird sehr einfühlsam, aber eindringlich geschildert. Man glaubt, mitten im zerbombten London zu stehen und Leichen auszugraben oder in Deutschland bei einer Parade des Führers zu sein. Atkinson ist es gelungen, den Schrecken des Krieges so geschickt mit dem Schicksal ihrer Protagonistin zu verbinden, dass man Anregungen zur Recherche erhält, aber nicht mit Fakten erschlagen wird. Je nachdem, welche Wahl Ursula getroffen hat, schildert sie glaubhaft, wie Hitler in Deutschland erlebt wird, aber auch, wie der Krieg in England wütet. Keine Sekunde lässt sie aber Zweifel daran offen, dass der Zweite - und auch der Erste - Weltkrieg etwas unbeschreiblich schreckliches war.

Die wichtigen Charaktere sind allesamt sehr liebevoll gezeichnet. Sie handeln alle sehr konsequent, genau so, wie der Leser sie kennen gelernt hat - außer eine Entscheidung Ursulas hat ihr Leben so verändert, dass auch ihr Wesen sich änderte.
Aber auch die fast endlos erscheinenden Nebenrollen, die den zahllosen verschiedenen Stationen in Ursulas Leben geschuldet sind, sind keine blassen Abziehbilder, sondern haben alle irgendetwas unverwechselbares.

Etwas schade fand ich, dass es im ganzen Buch keine Erklärung gibt, wieso Ursula diese Gabe besitzt und dass man auch nicht erfährt, ob es ein endloser Kreislauf der Wiedergeburten ist oder ob sie irgendwann tatsächlich sterben wird. Andererseits wäre dies ein Bruch der Erzählperspektive gewesen - woher sollte Ursula wissen, woher die Gabe kommt oder ob dieser Tod nun endgültig ist? -, sodass ich damit leben kann, auch wenn ich immer noch neugierig bin und munter spekuliere. Auch das Ende ist recht offen, womit es sehr gut zur Geschichte passt, die zwar einen Anfang, aber kein eigentliches Ende hat.
Generell regt das Buch sehr zum nachdenken an, was ich gut finde. Man stellt sich die Frage, welche Entscheidung man selbst getroffen hätte, welche Opfer man bringen würde, wenn man wissen könnte, was man damit verhindern kann. Dadurch ist "Die Unvollendete" kein Buch, das man ausliest und einfach abhaken kann; dennoch ließ es sich sehr leicht lesen und die Spannung blieb die ganze Zeit konstant, da man nie wusste, welches Leben Ursula nun erwartete, sodass ich immer weiter lesen wollte.
Interessant fand ich auch, inwiefern Ursula sich ihrer Gabe bewusst (oder nicht bewusst) war. Der Begriff "Déjà-vu" bekommt dadurch eine ganz neue Bedeutung...

Es ist sehr schwer, "Die Unvollendete" wirklich vollkommen zu beschreiben, alleine schon, weil so viel passiert und doch nicht passiert. Man wird durch ein Tal von Emotionen gejagt, Trauer, Schmerz, Wut, Freude, Liebe. Gerade die Schilderung der Folgen des Krieges trieben mir mehrfach die Tränen in die Augen. Meiner Meinung nach ist das Buch etwas ähnliches wie ein Kaleidoskop des Lebens in Europa zwischen 1910 und 1967. Gemeinsam mit der Protoganistin Ursula erlebt man die Geschichte um die Zeit der Weltkriege aus verschiedenen Blickwinkeln und begreift, welche Bedeutung es hätte, sein Leben immer wieder leben zu können: Egal, was man tut, es kann nie vollkommen perfekt sein und man kann nie wissen, ob man die eigene Lage nicht verschlechtern würde, wenn man alles nach Belieben verändern könnte. Außerdem macht Atkinson klar, dass schon ein scheinbar unbedeutendes Ereignis, eine Kleinigkeit, nicht nur das eigene Leben, sondern auch das seiner Mitmenschen sehr beeinflussen und ändern kann. Dies ist definitiv eine Botschaft, die ich aus dem Buch ziehe.