Was wäre, wenn …

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
mammutkeks Avatar

Von

Was wäre wohl geschehen, wenn man an einer Straßenkreuzung nicht nach rechts, sondern nach links gegangen wäre? Was, wenn man nicht den Mann erwählt hätte, dem man seit Jahren treu ist? Was, wenn man nicht Sprachen, sondern Chemie studiert hätte?
Vielfach sind es nur ganz kleine Dinge, die das eigene Leben verändern. Und genau diesem Thema widmet sich Kate Atkinson in "Die Unvollendete". Deren Hauptfigur, Ursula Todd, kommt im Februar 1910 zur Welt - und wäre fast direkt nach der Geburt gestorben. Nur dem schnellen Eingreifen des herbeigerufenen Arztes ist zu verdanken, dass die Nabelschnur durchgeschnitten wird. Oder war es doch das schnelle Eingreifen der Haushaltshilfe? Oder doch die Köchin, die es geschafft hat, dass Ursula überleben kann?
Auch im weiteren Leben gibt es viele Situationen, in denen eine kleine Entscheidung den Weg unterschiedlich gestalten kann. Sei es die Entscheidung für den (richtigen oder falschen) Partner, sei es die, wie der aufdringliche Freund des Bruders abzuwehren ist, sei es die Frage nach dem Studienfach.
Atkinson zeigt eindrucksvoll, wie viel eine einzige kleine Entscheidung ausmacht, indem sie aufgrund dieser jeweiligen Entscheidung die Geschichte weiter ausführt. So gerät Ursula durch die Wahl des falschen Mannes in einen Sog aus Gewalt und Erniedrigung. Durch die Wahl eines anderen Studienfachs gelangt sie sogar in den nahen Umkreis von Hitler und den anderen Nazigrößen auf dem Berg bei Berchtesgaden. Und wieder eine andere Entscheidung führt dazu, dass sie als Helferin die Londoner Bombardierungen miterlebt.

Insgesamt ein wunderbarer Roman, der allerdings seinen LeserInnen viel abverlangt. So muss man ein gutes Namensgedächtnis haben, denn einige Protagonisten sterben in der einen Variante, um dann in der nächsten oder übernächsten wieder aufzutauchen. Auch die Daten, die den Kapiteln vorangestellt sind, haben eine stärkere Bedeutung als bei anderen Romanen - man sollte sie unbedingt mitlesen und verarbeiten.
Was die Geschichte so besonders macht, ist aber nicht nur diese Konstruktion, sondern vor allem auch die Sprache. So werden Gedanken und kritische Anmerkungen häufig in Klammern im Fließtext ergänzt. Denn so ganz liebevoll sind auch die Geschwister Todd untereinander nicht - zwischen Maurice, Pamela, Ursula, Edward und Jimmy herrscht natürlicherweise nicht immer eitel Sonnenschein. Vielfach wird die Äußerung im Fließtext sogar durch die Klammeranmerkungen konterkariert.
Ein ganz besonderer Roman! Allerdings hätten die letzten etwa 50 Seiten für mich nicht sein müssen. Und auch der Klappentext könnte - wie so oft - anders formuliert werden, um dann doch mehr mit dem eigentlichen Roman zu tun zu haben.