Faszinierende fiktiv/reale Meditation (über) eine(r) Schriftstellerin

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Ich war noch nie so irritiert, was den Buchrücken und den tatsächlichen Inhalt eines Buches angeht. Nach dem Buch-Blurb zu urteilen, hatte ich erwartet, dass es recht schnell zu einer Begegnung der wegen ihres Alters vulnerablen Ich-Erzählerin und des jungen Studenten kommt und sich dann der Plot um diese Begegnung weiterentwickelt. Stattdessen taucht der Student erst auf Seite 98 in Szene. Grübel.

Ohne negative Wertung, denn bis zu dieser Begegnung gibt es schon zahlreiche, von Nunez wunderbar beobachtete Momente zwischen Freundinnen, die sich, pre-Covid, auf einer Beerdigung treffen und tagebuchähnlich dargebotenen Szenen während des Lockdowns, die wohl jeder und jedem in der ein oder anderen Weise bekannt vorkommen. Bei mir war das z.B. die Konzentrationsschwierigkeiten bei "Lektüre zum Vergnügen".

Das zweite, was mich anfangs irritiert hat, war der deutsche Titel des Buches (übersetzt von Anette Grube): "Die Verletzlichen" statt "The Vulnerables". Anfangs fand ich das nicht optimal, vor allem wegen der festgelegten medizinischen Bedeutung von Vulnerablen als nicht nur verletzlich, sondern auch schutzbedürftig. Für die große Leser:Innenschaft ist es eine nachvollziehbare Wahl: einfach verständlicher in den verschiedenen Anwendungsbereichen des Begriffes - die dann auch zum roten Faden des Buches wurden.

Eingestreut sind immer wieder Literaturhappen, die mehr einer persönlichen Reflektion der Autorin zu dienen scheinen, als die (zugegeben schmale) Handlung voranzubringen. Diese Mixtur aus Fiktivem und Realem ist wirklich gut konzipiert und, genau wie Nunez Beobachtungsgabe und die Liebe für eher schmale Bücher, ein absoluter Pluspunkt für mich.

Lieblingssatz:
"Ich habe mich mit der Tatsache abgefunden, dass ich, wann immer ich etwas über das Schreiben oder das Dasein als Schriftstellerin schreibe, manche Leute zu Tode nerve."