4,5 Sterne gegen das Vergessen

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elke seifried Avatar

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Linda Winterberg hat mich schon mehrfach besonders einnehmend und ergreifend mit ihren Romanen unterhalten, über Verdingkinder in der Schweiz wusste ich bisher nur wenig und daher war ich sehr gespannt auf ihren neuen Roman.


Der erfolgreichen, karriereorientierten Investmentbankerin Anna fällt durch einen Zufall in den Familienunterlagen ein Ordner mit dem Titel Adoption in die Hände. Mutter unbekannt, Geburtsname Regula und Geburtsort Hindelbank. Annas Welt stürzt ein. Was sie jahrelang für ihre Familie hielt ist ein einziges Lügengebäude. Hatte nicht neulich diese Journalistin Claudia Retter einen Artikel über Verdingkinder veröffentlicht, da war ebenfalls von Hindelbank die Rede. Vielleicht kann sie ihr weiterhelfen, wenn die Adoptivmutter schon so mauert?

Der Roman spielt mit zwei Zeitebenen und mehreren Handlungssträngen. Während man im Heute, bzw im Jahr 2008 in Zürich und Umgebung Annas Leben verfolgen und sich mit ihr auf die Suche machen darf, startet man in der Vergangenheit in Bern im Jahr 1969. Lena und ihre zwei Jahre ältere Schwester Marie werden, da ihre Mutter nach dem Tod des Vaters in tiefe Depressionen verfällt, von der Fürsorge in ein Heim verfrachtet. Von da ab wird dann auf getrennten Wegen gewandert. Während Lena das schlimmste vorstellbare Los gezogen hat und auf einem Bauernhof nicht nur körperlich schwer arbeiten muss, sondern auch brutal misshandelt wird, hat es Marie besser getroffen und so ist ihr Leben in der konservativen, gläubigen Floristenfamilie lange Zeit fast schon als gut zu bezeichnen. Mit auf Ausflüge und Feste, sie darf zur Schule, bekommt eine Ausbildung, Probleme entstehen erst, als sie sich verliebt. Der Kreis zum Heute schließt sich durch die Fragen, wer ist Annas Mutter und welche Schwester weiß von der anderen, traut sich aber keinen Kontakt aufzunehmen?


„Ihr ganzes Leben lang war sie belogen worden. Ihr wurde übel. Sie sprang auf und rannte in den Garten, wo sie sich übergab. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war nicht Anna Volkmann, sondern ein Mädchen namens Regula.“, Anfangs hatte ich wirklich Mitleid mit Anna, stets ans Buch gefesselt hat mich auch, dass ich unbedingt wissen wollte, wessen Kind sie ist. Womöglich der Spross einer Vergewaltigung, oder hat Marie mit ihrer Liebe ein Kind bekommen, ja nicht unerheblich für die Frage, wie wird es sein, wenn sich Mutter und Kind finden werden. Allerdings bin ich sonst mit dieser Anna nicht richtig warm geworden. Sie wirft ihren Job hin, rechnet mit ihren Affären ab, will sich ein neues Leben aufbauen. Verständlich auf der einen Seite, aber emotional war ich da nicht richtig mit dabei. Dazu war sie mir oft zu schroff, teilweise auch zu überheblich und ungerecht, wie z.B. bei einem Bewerbungsgespräch, oder auch im Umgang mit der Journalistin Claudia, die ihr alle Unterstützung gibt, die man sich nur erträumen kann. Deshalb hat mich der Erzählstrang im Heute auch etwas ausgebremst. Ergreifend, schockierend und bewegend ist allerdings die Geschichte in der Vergangenheit.

Der lockere Schreibstil der Autorin liest sich flüssig und ihr gelingt es durchaus Atmosphäre zu schaffen. Emotional kann sie mich völlig einfangen, das hat sie mir bereits mehrfach und auch hier wieder im Erzählstrang um die Vergangenheit bewiesen. „Ich glaube sie schlägt mich irgendwann tot.“ - „Das glaube ich nicht, du bist doch ihre Tochter. Sein eigenes Kind schlägt man nicht tot.“ - „Aber sie sagt ich wäre eine Missgeburt. Und Missgeburten darf man totschlagen.“ sagt eine Rainett, die etwas zurückgebliebene Tochter von Almuth Gerber, der Hofherrin. Dialoge wie diese, Szenen die die Gemeinheiten, die sie sich für das Verdingkind Lena ausdenkt, und auch die Übergriffe des stets betrunkenen Sohnes Olaf haben mir den Atem genommen, haben mich schockiert lesen lassen. Und auch die Abschnitte zu Maries Los habe ich zu Beginn gerührt, interessiert und nachdem sie die Familie Seemann verlassen muss, tief betroffen geradezu verschlungen.

Am meisten gelitten habe ich sicher mit Lena und auch mit Rainett, die ihr zu einer Art Anker wird, nachdem die Schwestern getrennt werden. Marie mochte ich und ich habe mich für sie gefreut, dass sie es zunächst besser getroffen hat und habe anschließend auch mit ihr gebibbert und gelitten. All die Charaktere, die in der Vergangenheit agieren sind authentisch, individuell und auch differenziert ausgesucht und dargestellt.

Die verlorene Schwester ist für mich ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen und Verdrängen und ich konnte mir ein gutes erstes Bild von diesem finsteren Kapitel in der Schweizer Vergangenheit machen, die ja erschreckenderweise noch gar nicht so lange zurück liegt. Bis 1980 war es in der Schweiz knapp zwei Jahrhunderte lag Praxis, Kinder zu „verdingen“, also Kinder an Pflegeeltern abzugeben. Je weniger Kostgeld die Pflegeeltern wollten, desto eher bekamen sie Kinder zugeteilt. Harte und körperlich schwere Arbeit und wenn sie es besonders schlecht getroffen haben, auch körperliche brutale Misshandlungen und sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung, hatte man in allem Elend nicht das große Los gezogen und kam in eine Familie, die ein wenig Herz zeigte. Betroffen davon waren hauptsächlich Waisen- und Scheidungskinder. „Den meisten Mädchen wurde vorgeworfen, sie wären aufmüpfig, stammten aus schlechten Verhältnissen, einige waren schwanger, aber nicht verheiratet. Die Liste der moralischen Verfehlungen war lang. Gerichtsverfahren hatte es gegen keine der Mädchen gegeben.“Die Verdingkinder wurden geächtet und als Abschaum der Gesellschaft angesehen und zudem waren sie der Behördenwillkür ausgesetzt, häufig auch einfach in Gefängnissen inzwischen von Mördern und Schwerverbrechern untergebracht.

Schon allein um diese schrecklichen Verbrechen nicht ins Vergessen geraten zu lassen, ist dieser Roman auf jeden Fall wert gelesen zu werden. Auch wenn es für mich für fünf Sterne, da mich einfach die Handlung im Heute etwas ausgebremst hat, nicht mehr ganz reicht, bekommt man auf unterhaltsame Art und Weise fesselnd, schockierende Eindrücke geboten, die einen emotional mitnehmen.