Ein Stück düstere Schweizer Vergangenheit, das bis in die Gegenwart reicht

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dreamworx Avatar

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1968 Schweiz. Als ihr Vater stirbt, werden die Schwestern Marie und Lena vom Berner Jugendamt in ein Kinderheim verbracht, weil die depressive Mutter sich nicht richtig um sie kümmern kann. Doch das Kinderheim ist nicht die letzte Station der beiden Mädchen. Nach einiger Zeit kommen sie in ein von Nonnen geführtes Erziehungsheim, wo sie Demütigungen und Spott ertragen müssen. Aber ihr Alptraum ist noch lange nicht beendet, denn sie werden plötzlich voneinander getrennt als Pflegekinder in unterschiedliche Schweizer Familien gesteckt als sogenannte Verdingkinder, dort beginnt für sie die wahre Hölle…
2008. Ganz zufällig erfährt die Investmentbankerin Anna, dass ihre Mutter ein Verdingkind war und sie selbst in einem Gefängnis geboren und danach adoptiert wurde. Anna macht sich mit der Unterstützung einer Journalistin auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter und erfährt dabei das düstere Vermächtnis der schweizerischen Verdingkinder…
Linda Winterberg hat mit ihrem Roman „Die verlorene Schwester“ einen sehr fesselnden, bildhaften und gefühlvollen Roman vorgelegt, der den Leser von der ersten Seite an gefangen hält und ihn auf eine sehr emotionale Reise schickt. Der Schreibstil ist flüssig, schnell taucht der Leser in die Handlung ein und sieht sich drei Frauen und ihrem Schicksal gegenüber, das einen mitten ins Herz trifft. Die Geschichte ist über zwei Zeitebenen angelegt, der eine Erzählstrang gibt die Gegenwart um Anna und ihre Recherche wieder, der andere lässt den Leser am Leben von Marie und Lena in der Vergangenheit teilhaben. Durch die wechselnden Perspektiven wird die Spannung der Handlung stetig gesteigert. Die Autorin versteht es dabei geschickt, den Leser durch gut eingebaute Wendungen und die häppchenweise Preisgabe der Vergangenheit zu überraschen. Der gut recherchierte historische Hintergrund wurde sehr schön mit der Handlung verflochten und gibt dem Leser einen guten Eindruck darüber, was es mit den Verdingkindern auf sich hatte. Dies geht bei der Lektüre ziemlich ans Herz und ist fast nicht zu glauben, dass es noch vor 60 Jahren solche Zustände gegeben hat. Man fragt sich die ganze Zeit, wie viele von diesen Kindern heute noch auf der Suche nach ihren Eltern sind und was sie alles ertragen mussten.
Die Charaktere sind sehr individuell ausgearbeitet und in Szene gesetzt. Durch ihre besondere Authentizität kann sich der Leser gut in sie hineinversetzen und mit ihnen fühlen, leiden, hoffen und bangen. Anna ist eine toughe Bankerin, die so schnell nichts umhaut oder beeindruckt. Doch die Nachricht ihrer Adoption gibt ihr ein Gefühl der Wurzellosigkeit. Sie ist hartnäckig und mutig, will unbedingt herausfinden, wer ihre Mutter ist. Marie und Lena sind ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert. Sie haben nur sich und klammern sich deshalb auch aneinander, deshalb ist die Trennung für beide wie ein Todesstoß. Ihre Kindheit ist früh beendet, beide müssen hart arbeiten, sich gegen Spott, Misshandlungen und Demütigungen wappnen, was ihren Kinderseelen einiges an Narben beschert. Beide leiden unter der Trennung und wissen nicht, was mit der jeweils anderen ist. Gleichzeitig bewahren sie sich über all die Jahre die Hoffnung, sich doch irgendwann einmal wiederzusehen. Sie stellen sich ihrem Schicksal mutig entgegen, beweisen Stärke und Kraft bei allem, was andere mutlos und verzweifeln lassen würde.
„Die verlorene Schwester“ ist ein hochemotionaler und tiefgründiger Roman über das Schicksal von Schweizer Verdingkindern, der von der ersten bis zur letzten Seite in Atem hält und noch lange nachhallt. Absolut verdiente Leseempfehlung!