Atmosphärisch, düster und doch voller Hoffnung

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nathi_taiwan Avatar

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Die junge und mittellose Bess Bright hat kaum ihre Tochter Clara zur Welt gebracht, als sie sie auch schon wieder abgeben muss. Denn das Leben im London des 18. Jahrhunderts ist für die meisten Menschen hart und entbehrungsreich; ganz besonders gilt das aber für junge, unverheiratete und mittellose Frauen. In der Not gibt Bess ihr Kind daher in ein Heim für Waisen, welches von einem Philanthropen gegründet wurde. Sie verspricht Clara und auch sich selbst, dass sie sie nach Hause bringen würde, sobald sie genug Geld zusammen hat, um gut für ihr Kind sorgen zu können.
Als Bess sechs Jahre später erneut im Waisenheim erscheint, muss sie zu ihrer wachsenden Panik feststellen, dass Clara schon lange nicht mehr dort lebt. Doch wer könnte sie mitgenommen haben? Auf der verzweifelten Suche nach Clara bricht Bess viele gesellschaftliche Schranken und führt uns durch ein weitgehend unbekanntes London…

Eine große Stärke dieses Romans liegt in seiner authentischen und atmosphärischen Darstellung des historischen Schauplatzes. Das liegt einerseits daran, dass die Autorin sehr genau recherchiert hat, welche sozialen Themen diese Epoche Londons bestimmt haben; so werden Themen wie Kinderhandel, Prostitution sowie Gesundheit und Sterblichkeit geschickt aufgegriffen und miteinander verflochten. Andererseits bekommt man in diesem Roman Viertel Londons zu Gesicht, die man normalerweise (in Romanen und Filmen aus/zu dieser Epoche) nur selten sieht: die Viertel der Arbeiter:innen. Durch die anschaulichen Beschreibungen konnte ich mir die Lebensumstände seiner Bewohner:innen sehr gut vorstellen und ihr schwieriges, durch die Geburt bestimmte Schicksal auch ansatzweise nachvollziehen.

Dadurch, dass wir Bess meistens durch die ärmeren Viertel begleiten, wird dem Roman eine eher düstere Stimmung gegeben. Das deckt sich auch mit den Kapiteln, die nicht aus Bess Perspektive erzählt werden, sondern in einem dunklen Herrenhaus spielen. Durch den Perspektivwechsel nach dem ersten Drittel des Buches wird dem Buch auch mehr Spannung verliehen. Wer ist diese Frau namens Alexandra, die fast allein in diesem Haus lebt und es kaum verlässt? Welche Geschichte hat sie zu erzählen?
Indem ich als Leserin Einblick in die Gedankenwelten zweier Frauen bekommen habe, konnte ich beiden Sympathie und Mitgefühl gegenüber empfinden. Gleichzeitig fiebert man ungeduldig der Auflösung entgegen – das „Wer?“ ist dabei nicht entscheidend, sondern das „Wie?“.

Darüber hinaus zeichnen insbesondere seine willensstarken Charaktere diesen Roman aus und machen ihn zu etwas Besonderem. Sowohl Bess als auch Alexandra sind aus verschiedenen Gründen gewissen gesellschaftlichen Zwängen unterworfen; das hält die beiden jedoch nicht davon ab für sich selbst einzutreten und somit auch zu einem gewissen Grad unabhängig zu werden. Ihre Handlungen und Gedankengänge, die oft nachvollziehbar sind, geben ihnen damit die notwendige Tiefe und definieren die Personen, zu denen sie sich weiterentwickeln.

Fazit: Aufgrund der historischen Authentizität, des spannenden perspektivischen Aufbaus und den vielschichtigen Charakteren kann ich das Buch allen ans Herz legen, die sich für diese Epoche und seine Themen interessieren und dabei Einblick bekommen wollen in die eher unbekannten Seiten Londons. Klare Empfehlung!