Ein kleines Mädchen, hin und hergerissen zwischen zwei Welten

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klusi Avatar

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Gleich zu Beginn des Romans erlebt man mit, wie die Krabbenverkäuferin Bess Bright ihre neu geborene Tochter in einem Waisenhaus abgeben muss, weil sie mit ihrer Familie in Armut lebt und das Kind nicht ernähren könnte. Aber Bess ist fest entschlossen, ihre Clara wieder zu sich zu holen, sobald es ihr möglich ist. Sechs Jahre spart sie eisern und fiebert auf den Tag hin, dass sie ihre kleine Tochter wieder in die Arme schließen kann. Aber im Kinderheim erlebt sie einen Schock, denn sie erfährt, dass ihre Tochter bereits in ihrem Namen abgeholt wurde. Es beginnt eine verzweifelte Suche. Dabei kommt eine weitere Frau ins Spiel: Alexandra. Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht der beiden Protagonistinnen erzählt. So nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen. Man erfährt, was geschehen ist und wie die verschiedenen Personen zusammenhängen. Bess ist eine sehr sympathische junge Frau, die alles tut, um ihr Kind wieder zu sich zu holen. Man kann sie nur allzu gut verstehen, will sie doch nur das Beste für ihre Tochter. Alexandra war mir anfangs suspekt. Ihre Handlungen und die ganze Lebensweise, alles an ihr wirkt gezwungen. Wenn dann nach und nach offen gelegt wird, welche schlimmen Dinge sie bereits erlebt hat, kann man auch für sie Verständnis aufbringen, zumindest weitgehend. Während Bess in Armut lebt, ist Alexandra eine wohlhabende Witwe.
Und dann gibt es da noch das kleine Mädchen, das quasi zwischen den Fronten steht, das zwei Namen hat und mit zwei völlig verschiedenen Welten konfrontiert wird.

Der Roman gibt Einblick in das Leben verschiedener Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen im 18. Jahrhundert in London. Stacey Halls hat einen eindrucksvollen, bildhaften Schreibstil und schildert die verschiedenen Situationen sehr lebendig. Sie hat sich ausgiebig mit dem Leben und den Menschen damals beschäftigt. Ich habe beim Lesen dieser Geschichte viel Neues erfahren, beispielsweise welche Aufgabe ein Fackelträger zur damaligen Zeit hatte und wie eine Krabbenverkäuferin ihren Beruf ausübte. Auch die Kunst kommt ins Spiel, so sind die Gemälde von William Hogarth öfter ein Thema, und von ihm gibt es auch das Porträt eines Krabbenmädchens. Beim Lesen historischer Romane gehe ich gerne selbst auf die Suche nach ergänzenden Informationen. So habe ich auch den erwähnten Maler und seine Werke gegoogelt und kann mir nun vorstellen, wie Bess ihre Krabben für den Verkauf in Billingsgate transportiert hat. Neben den beiden starken Protagonistinnen hat der Roman noch einige weitere interessante Charaktere, da gibt es zum Beispiel die hilfsbereite und liebenswerte Keziah, Bess‘ beste Freundin oder den sympathischen Lyle, der erst ziemlich spät in Erscheinung tritt, aber im Verlauf der Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Dann möchte ich auch unbedingt Dr. Mead erwähnen, der ein großes Herz, auch für die Armen, hat und in die Fußstapfen seines Großvaters tritt. Noch intensiver möchte ich gar nicht auf die Handlung eingehen, denn es ist überaus fesselnd, diese Geschichte selbst zu lesen, und dem möchte ich keinesfalls vorgreifen.

Mich hat der Roman beeindruckt und berührt, gibt er doch ein sehr lebendiges Bild des Georgianischen Zeitalters wieder und lässt Einblicke in die verschiedenen Gesellschaftsschichten zu. Am Beispiel von Bess erfahren wir hier auch sehr deutlich, wozu Mutterliebe fähig sein kann.

Bemerkenswert ist auch das wunderschöne Cover, das durch einige Details perfekt zur Handlung passt.