Kampf gegen die Konventionen

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elohym78 Avatar

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Schweren Herzens tritt die junge Bess den Weg ins Waisenhaus an, um ihre gerade erst geborene Tochter Clara dort abzugeben. Das Mädchen soll in Ruhe, Frieden und Geborgenheit aufwachsen, ohne Hunger und Angst. Denn das würde das Kind bei ihr erwarten. Sechs Jahre gehen ins Land, bis Bess endlich so viel Geld gespart hat, dass sie Clara zu sich holen kann. Voller Freude und mit Liebe im Herzen geht sie in das Waisenhaus. Nur um zu erfahren, dass schon jemand anderes ihre Tochter abgeholt hat. Doch Blut ist dicker als Wasser und so beginnt der Kampf einer Mutter um ihr Kind.

Das Cover zeigt einen Käfig, in dem eine Frau ein Kind auf den Armen hält. Sie ist im Scherenschnitt dargestellt, so dass nicht klar wird, welche von den beiden Protagonistinnen es sein soll. Es könnten sowohl Bess als auch Alexandra sein, da beide Frauen gefangen in ihrer jeweiligen Welt wie in einem Käfig sind und diesem zu dieser Zeit nicht entkommen können. Gefangen in den Konventionen der damaligen Zeit und einem Lügengeflecht steht der Käfig für ihrer beider Leben. Geschmückt ist das Bild mit vielen Blumen, einem Herz und einer kleinen Plakette. Ich finde es wunderschön gestaltet, da es symbolträchtig ist und je häufiger ich es betrachte, desto mehr Einzelheiten finde ich. Auch auf der Rückseite. Selten hat mich ein Bild so begeistern können.

Stacey Halls besticht durch ihren ruhigen, intensiven Schreibstil. Sie schildert gekonnt das Leben einer Frau in der jüngeren Neuzeit. Und das war alles andere als angenehm, aus meiner heutigen Sicht. Auf der einen Seite bittere Armut, in der Frauen von früh bis spät schuften müssen, um ihre Familie durch zu bringen. Auf der anderen Seite die Frauen, die vom Glück begünstigt sind und nicht arbeiten brauchen. Doch beide, egal ob arm oder reich, sind gefangen in den jeweiligen Konventionen und können nicht ausbrechen. Jede Seite leidet und dies schildert Stacey Halls eindringlich. Oft musste ich schlucken und ob der Ungerechtigkeiten kämpfen. Doch da Bess und Alexandra in dieser Zeit heranwachsen, ist es für sie nichts Ungewöhnliches. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten begehren sie zwar auf, lesen Zeitung und vertreten ihre Meinung, aber eher in einem begrenzten Rahmen.

Und doch geht es beiden nur um eins: Ein kleines Mädchen. Bess muss ihre neugeborene Tochter Clara in ein Waisenhaus geben, um ihr Leben zu retten. Denn ohne Vater und mit täglicher Arbeit kann sie das Kind nicht groß ziehen. Die Schilderung der Abgabe und die Seelenqualen der jungen Mutter, brachen mir fast das Herz. Und noch mehr zu lesen, welche Hoffnung sich Bess macht, ihre Tochter eines Tages wieder abholen zu können! Das Sehnen, die pure Verzweiflung und die nie aufgegeben Hoffnung rühren mich zu Tränen.
Auf der anderen Seite Alexandra, die Charlotte abgeschottet von der Welt groß zieht. Denn keiner darf das Haus verlassen. Alexandra scheint auf den ersten Blick gestört, aber sie will einzig sich und ihre kleine Familie schützen vor den Unbilden der damaligen Zeit, dem Tod und allen Ungerechtigkeiten. So abstrus die Gedankengänge sein mögen, ich finde sie gleichzeitig auch bewundernswert.

Besonders gut haben mir die beiden Ich-Erzähler Perspektiven gefallen. Auf der einen Seite wird aus der Sicht von Bess gesprochen. Sie wächst in bitterer Armut auf und erfährt doch, wie schön das Leben sein kann. Auch wenn tägliche Arbeit bis zur Schmerzgrenze an der Tagesordnung steht, so wird Freundschaft und Familienzusammenhalt doch groß geschrieben. Bess ist eine starke, bodenständige Frau, die ihren Platz im Leben kennt.

Auf der anderen Seite aus Alexandras Sicht. Und da wechselt der Schreibstil von Stacey Halls sogar. Denn die bedrückende Leichtigkeit ändert sich zu einer trägen Schwere, gewürzt mit Überheblichkeit. Komischerweise war mir Alexandra von Beginn an unsympathisch und je näher ich sie kennenlernen durfte, desto schlimmer wurde es. Ein Charakter, mit dem ich überhaupt nicht warm wurde. Deswegen empfand ich ihre Textpassagen auch als weniger spannend, interessant und mitreißend.

Mein Fazit
Ein Kampf gegen die Konventionen muss nicht immer im Großen statt finden. Auch kleine Veränderungen können die Welt ins Wanken bringen.