Sehnsucht und Möglichkeit

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London 1754. Bess sieht keine Möglichkeit, ihre gerade geborene Tochter Clara zu behalten. Sie lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder in einem ärmlichen Viertel von London. Der Vater des Kindes ist tot. Das Foundling Hospital scheint die optimale Lösung: Clara wird dort so lange betreut, bis Bess selber für sie sorgen kann. eifrig spart Bess jeden Penny. Als sie jedoch sechs Jahre später Clara nach Hause holen will, ist das Kind mit der Nummer 627 nicht mehr vor Ort. Laut den Unterlagen hat Bess das Mädchen bereits einen Tag nach der Geburt geholt. Die junge Frau macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter.

Stacey Halls schildert in ihrem zweiten Roman die Klassengesellschaft im 18. Jahrhundert. Bess gehört zur unteren Klasse, die täglich ums Überleben kämpft. Sie hilft ihrem Vater, beim Verkauf von Krabben. Ihr Bruder lässt sich dagegen immer wieder zu halbseidenen Geschäften hinreißen und spricht dem Alkohol zu. Sie haben nie genug Geld und können somit auch das Neugeborene nicht so versorgen, wie es nötig wäre. Bess entscheidet sich dafür, das Kind in eine andere Obhut zu bringen, bei der sie später die Möglichkeit hat, es wieder abzuholen. Im Foundling Hospital erfährt man wie nebenbei, wie seinerzeit die Kinder behandelt wurden. Mit sechs Jahren empfand man sie als alt genug, um im Geschäft mitzuarbeiten. Es ist also nur zu verständlich, dass Bess sich für ihre Tochter etwas Besseres wünscht. Als sie erfährt, dass jemand Clara abgeholt hatte, war es ein Schock. Dass dieser jemand auch noch ihren Namen angegeben hat, noch ein viel größerer.

Die britische Journalistin weckt schon im ersten Abschnitt von vieren die Neugier aufs Ende. Der folgende Abschnitt wird allerdings aus Alexandras Sicht geschildert, die sich offensichtlich in der Oberschicht bewegt. Bess wird bei einem Kirchgang auf sie aufmerksam, da sie die Witwe von Claras Vater istL Eine Verstrickung, die ebenfalls neugierig macht. Neben sich hat sie Charlotte, ein Mädchen in Claras Alter. Bess zählt, wie jeder Leser auch, zwei und zwei zusammen. Sie bewirbt sich als Kindermädchen und wird im Haushalt der wohlhabenden Dame aufgenommen. Halls verdeutlicht nun die innere Bindung zwischen einer leiblichen Mutter und ihrem Kind. Gleichzeitig erfährt man eine Menge über die Erziehung und Ansprüche an die höhere Gesellschaft. Das Zusammenspiel der Figuren ergibt einen Querschnitt aller Klassen und zeigt die Vor- aber auch die Nachteile. Die genutzte Symbolik drängt sich nicht auf, sondern erschließt sich erst bei Kenntnis des gesamten Textes.

Die Handlung folgt wie beschrieben anfangs einem hohen Tempo, das leider nicht gehalten werden kann. Fast schon skurril erscheint das Wesen von Alexandra und man muss sich immer wieder verdeutlichen, welche Motivation Bess in dieser Geschichte hat. Die Recherche der tatsächlichen Begebenheiten wie das Foundling House ist weit mehr gelungen als die Charakterzeichnung. Der öfter erwähnte Maler William Hogarth schuf „Das Krabbenmädchen“, das eine Vorlage für Bess in diesem atmosphärisch dichten Roman darstellt.