Die Wortvermesserin

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Die Vermesserin der Worte von Katharina Seck

Der neue Roman von Katharina Seck kommt mit einer schönen und vielversprechenden Idee daher: Die junge Autorin Ida ist in einer Schreibblockade gefangen. Seit vier Monaten hat sie es nicht geschafft, auch nur ein Wort zu Papier zu bringen. Deshalb nimmt sie einen Aushilfsjob bei einer alten Dame auf dem Land an. Deren Geschichte und Erinnerungen wecken auch in Ida endlich wieder die Worte, nach denen sie so lange gesucht hat.

Wirklich, eine tolle Idee. Und ich mochte die alte Dame, Ottilie, sehr. Eine tolle Figur, anfangs sehr verschlossen, mit einer interessanten Hintergrundgeschichte. Ihre Vergangenheit sowie die langsam wachsende Beziehung zwischen ihr und Ida waren mein liebster Teil der Erzählung.

Aber trotz der schönen Aspekte von „Die Vermesserin der Worte“ hatte ich leider auch meine Probleme mit diesem Buch. Ich mag das Thema wirklich gern, fand auch die Leitfrage, ob man Worten ein Gewicht geben und sie vermessen kann, interessant, und Ottilies und Idas Beziehung war auf jeden Fall mein persönliches Highlight des Buches. Aber ich hatte leider kaum je dieses besondere Gefühl, unbedingt weiterlesen zu müssen. Häufig wurde für meinen Geschmack zu viel und zu kleinteilig erzählt, und oft wirkte es leider so, als ob aus sehr wenig sehr viel gemacht werden soll. Ich mag poetische, geschwollene Sprache, darf auch gerne mal einen Hang zum Kitschigen haben, darf auch gerne mal ein bisschen „platt“ sein, was die Botschaften usw. angeht, alles super, damit hatte ich weniger Probleme - ich verstehe aber den Kritikpunkt, der schon genannt wurde, dass teilweise zu geschwollen erzählt wurde, dass zu viele Nebensächlichkeiten absätzelang aufgebläht wurden und dass manche Bilder etwas schief waren. Für mich war das zumeist noch im Rahmen, aber ja, es ging langsam in Richtung „zu viel des Guten“, und manchmal hat die Erzählweise eben doch den Lesefluss gebremst. Und Ida wirkt leider, wiewohl sehr sympathisch, als Hauptfigur gerade am Anfang etwas zu träge und als Figur eher unausgereift. Ein bisschen, als hätte man begonnen, eine Bleistiftzeichnung mit Farbe zu füllen, und bei der Hälfte einfach … aufgehört. Es tut mir im Herzen weh, das zu sagen, aber Ida hat mich über weite Teile des Buches schlicht gelangweilt. Zudem gab es für mich bei Idas Ankunft im Dorf wirklich zu viele verschiedene Vergleiche, erst fühlte sie sich, als wäre sie in Narnia, dann ein paar Sätze später, als wäre sie in Oz gelandet, dann zwei Seiten später, als wäre sie Alice, die ins Wunderland gelangt ist. Solche Vergleiche mögen ja wirksam sein, und man kann sie ja auch alle an verschiedenen Stellen des Buches nutzen, aber drei solcher Vergleiche kurz hintereinander, bezogen auf das selbe Dorf und Idas Ankunft dort, sind maximal verwirrend. Das sind ja alles völlig unterschiedliche Welten und Geschichten, die da quasi in einen Vergleichetopf gehauen werden. Mein Gehirn wusste gar nicht mehr, was denn nun. Es holt einen einfach aus dem Lesefluss, weil man innehalten und überlegen muss, ob das Dorf nun wie Narnia ist oder wie Oz oder wie das Wunderland, und welches Bild man sich da jetzt selbst im Kopf malen will. Es mag eine Kleinigkeit sein, aber ich habe es als sehr störend empfunden.

Was jetzt Ida, die Hauptfigur, angeht: Ich mochte ihren nachdenklichen und sensiblen Charakter schon gern. Auch ihre Liebe zu Büchern ist spürbar. Dennoch hat mir immer weder die Tiefe gefehlt. Während Ottilie als Figur interessant ist, bleibt Ida blass. Mir fehlte auch ihre Motivation - ja, die Autorin erklärt, wie verzweifelt Ida nach „ihren Worten“ sucht, aber ich sehe nichts von dieser verzweifelten Suche. Sie hat vier Monate lang in ihrer Wohnung gehockt und kein Wort geschrieben, das wirkt für mich eher wie Selbstaufgabe. Und dann sucht sie sich einen Aushilfsjob auf dem Land, in der vagen Hoffnung, dass ein Tapetenwechsel ihr bei ihrer Schreibblockade hilft. Okay, noch einigermaßen verständlich, aber … sie sucht sich diesen Job ja auch nicht wirklich selbst, sie bekommt ihn quasi unter die Nase gehalten. Sie unternimmt anfangs eigentlich nichts aus einem starken inneren Antrieb heraus, und auch, wenn ihre Mutlosigkeit und Selbstaufgabe irgendwie nachvollziehbar sind, machte es mir den Einstieg sehr, sehr schwer. Das finde ich schade, denn es hat mich daran gehindert, voll und ganz mit dieser eigentlich sympathischen und einfühlsamen Figur mitzufühlen und voller Interesse und Freude mit ihr auf die Reise zu gehen.

Ein anderes Problem, das ich mit Ida hatte, und das hat mich wirklich gestört … sorry, ich habe ihr die Autorin nicht abgekauft. Gar nicht. Man erfährt ja kaum etwas über ihre Tätigkeit als Autorin. Was hat sie denn geschrieben vor ihrer Blockade, welche Themen beschäftigten sie, welches Genre, wie viele Bücher hat sie veröffentlicht, war sie erfolgreich, hat sie Kollegen, mit denen sie im Austausch steht, eine Lektorin oder Agentin, die ihr in den Allerwertesten tritt, irgendetwas? Alles wäre besser gewesen als dieses klaffende Nichts. Es wird mal was von nicht erreichten Deadlines gesagt, meine ich, aber das wars. Das reicht doch nicht. Nach welchen Worten sucht sie denn überhaupt? Dafür bekomme ich als Leserin null Gefühl. Wieso sollte ich mich dafür interessieren, dass sie wieder schreibt? Ich bekomme dafür einfach keinen Grund geliefert, außer, dass „die Worte“ irgendwie weg sind. Was sie schreibt, wieso sie schreibt, welche Geschichten sie noch erzählen könnte, was überhaupt ihre Wünsche und Ziele sind, das wird während der ersten einhundert Seiten kaum thematisiert, und wenn, dann nur sehr oberflächlich, und das lässt die Figur, ihre Welt und ihre Motivation leider völlig leer wirken.

Außerdem … irgendwie gibt es immer mal wieder kleinere Perspektivfehler in dem Buch. Wir befinden uns in einem personalen Er/Sie-Erzähler, in Idas Perspektive, aber manchmal wird dann doch die Außensicht („Tränen glänzten in Idas Augen) oder in die Gefühlswelt anderer Personen gewechselt („Aufregung regte sich in Ottilie“). Ein Mal wäre es nicht schlimm gewesen, aber es kam dann doch mehrmals vor und hat mich im Zusammenhang mit den teilweise etwas schiefen Bildern etwas gestört.

Die Spurensuche selbst fand ich dann ganz spannend, obwohl mir manche von Idas Schlüssen gerade am Anfang (später war es dann besser) etwas weit hergeholt erschienen. Wieso ging sie schon ganz am Anfang, kurz nach ihrer Ankunft im Dorf, davon aus, dass Ottilie Geheimnisse hütet oder dass die Dorfbewohner versucht haben, ihre Geschichte auszulöschen? Wegen einer einzigen fehlenden Seite in einer Dorfchronik? Ida kennt anfangs weder Ottilie noch die Dorfbewohner, und schon quasi von der ersten Sekunde an trifft sie dafür sehr weitreichende Annahmen und zieht so umfassende Schlüsse, dass ich mehrmals innehalten musste, um mich zu fragen, ob ich jetzt etwas überlesen habe oder ob sie das jetzt wirklich einfach so mal aus der Luft greift … Einiges mag man mit Idas emphatischem Charakter wegerklärten können, aber irgendwann war es dann doch zu viel, zu viele zu umfassende Annahmen und Schlüsse, kaum echte Fehlannahmen, Ida „wusste“ einfach instinktiv sofort und auch erstaunlich umfassend und zutreffend, was mit allen los ist. Das ist zu viel, finde ich.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ich habe mich sehr auf „Die Vermesserin der Worte“ gefreut, weil die sehr Idee schön ist. Und der Roman hat auch viel Gutes. Ottilie war mein persönlicher Liebling, während ich leider Schwierigkeiten hatte, mich von der Hauptfigur Ida wirklich mitreißen zu lassen. Am besten hat mir die langsam wachsende Beziehung zwischen Ottilie und Ida gefallen.

Ich vergebe 3,5 Sterne, aufgerundet demnach vier, und eine eingeschränkte Leseempfehlung für alle, die gern eine liebevolle, langsam erzählte Geschichte über die Liebe zu Büchern und zum Lesen lesen möchten. Ganz viele Pluspunkte gibt es außerdem für das Cover, das wirklich hervorragend gelungen ist und sehr stilvoll aussieht.