Identität und Erwartung

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In einer kleinen Stadt in Louisiana wachsen die Zwillinge Desiree und Stella Vignes auf. Es sind sehr hellhäutige Mädchen, wie wohl alle Bewohner dieses Ortes, dem Gesetz nach gelten sie aber als Schwarze. Eines Tages verlassen die Mädchen heimlich ihren Heimatort, um in New Orleans ein neues Leben zu beginnen. Doch dort trennen sich auch ihre Wege. Während Stella einen weißen Geschäftsmann heiratet und fortan ihr Leben als weiße Frau zu leben versucht, nimmt sich Desiree den dunkelsten Mann, den sie finden konnte, zum Ehemann.
Die afroamerikanische Schriftstellerin Brit Bennett greift in ihrem Roman „Die verschwindende Hälfte“ die große Frage nach Zugehörigkeit und Identität auf. Das Buch erschien genau eine Woche nachdem ein weißer Polizist den schwarzen George Floyd getötet hatte, indem er acht Minuten lang auf seinem Hals kniete und mit diesem Vorfall der Ruf #blacklivematters laut und deutlich um die Welt ging.
Mallard, Louisiana, ist ein fiktiver Ort, der aber so existieren hätte können, so klein, dass er auf keiner Karte zu finden war. Es gab tatsächliche Orte, in denen die Schwarzen darauf achteten, nur andere hellhäutige Ehepartner zu finden, damit ihre Kinder über die Generationen immer hellere Haut haben würden. Als Desiree nach Jahren der Abwesenheit mit einem tief dunklen Kind an der Hand zurückkehrt, sorgt dies unter den Einwohnern von Mallard für große Aufmerksamkeit. Jude, Desirees Tochter, wird in der Schule gemobbt. - „Teerbaby haben sie sie genannt.“ - Der Junge, der sie untertags am schlechtesten behandelt, begehrt sie des Nachts. Jude verlässt Mallard, um in Los Angeles zu studieren, wo sie Reese kennen lernt, der als Theresa Ann geboren wurde und in Kalifornien sich zu seinem eigentlich gefühlten Geschlecht bekennen kann.
Stella hingegen lebt ihr gesamtes Erwachsenenleben in Lüge und Angst, dass ihre wahre Herkunft ans Licht kommt. - „Als Farbige trat sie ein, und als Weiße kam sie wieder heraus. Sie war weiß geworden, einfach weil alle sie dafür hielten.“- Diese Lebenslüge gibt sie auch an ihre Tochter Kennedy weiter. Erst als Jude und Kennedy sich zufällig kennen lernen, beginnt ganz langsam ein Zusammenrücken der beiden „Hälften“.
Zugehörigkeit, biologische und soziale Herkunft, „passing“ und Genderidentität. Worüber Brit Bennett scheinbar so mühelos schreibt, trifft einen existenziellen Kern unserer Zeit.
Schwarz. Weiß. Frau. Mann. Identität und Erwartung. Was sind wir? Was wollen wir sein? Was können wir sein? Mit der Neubestimmung ihrer Identität befassen sich in diesem Roman nahezu alle Personen. Alternative Lebensentwürfe über die Grenzen von Klasse und Geschlecht, wunderbar zusammengefasst in einem Generationenroman, den ich kaum aus der Hand legen wollte.