Starker Trilogie Auftakt über lebende Städte im Multiversum und die Avatare der Stadt New York

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alekto Avatar

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Große Städte sind wie alle anderen lebenden Dinge. Eines Tages erreichen sie den Punkt, an dem sie geboren werden, um dann zu altern, bis sie sterben. Fragil ist dabei vor allen Dingen der Zeitpunkt ihrer Geburt, so dass sich die Stadt zuvor einen ihrer Bewohner als ihren Avatar und Wächter erwählt, der ihr dann als Hebamme Geburtshilfe leistet. Dieser Avatar repräsentiert nicht nur die Stadt, sondern ist auf eine gewisse Weise sogar die Stadt selbst. Wenn die Stadt geboren wird, ist sie so wehrlos und schwach, dass der Feind stets diesen Moment nutzt, um sie anzugreifen. So liefert sich auch der Avatar von New York einen erbitterten Kampf mit dem Feind, der die Stadt erschüttert, auch wenn die meisten Bewohner ihn nicht sehen, sondern eher erahnen können. Diese erste Schlacht, die der Feind verliert, hinterlässt jedoch ihre Spuren auf dem FDR Drive. Der Feind ist zwar geschwächt, aber noch lange nicht besiegt. Doch der Avatar, der ganz New York verkörpert, ist verschwunden. Was kommt da noch auf die Stadt zu? Und wer wird sie nun schützen?

"Die Wächterinnen von New York" stellt den Auftakt einer Trilogie dar und ist für mich der erste Roman von N. K. Jemisin gewesen. Im Original trägt dieser den passenderen Titel "The City We Became". Denn die vier Wächterinnen, aber auch der eine Wächter von New York sind:
1) Manny, der Manhatten repräsentiert und neu in New York ist. Erst am Tag ihrer Geburt ist er in der Stadt angekommen, um in Politikwissenschaften an der Columbia zu promovieren. Doch als er aus dem Zug an der Penn Station steigt, hat er alle persönlichen Informationen seines bisherigen Lebens, was sogar seinen Namen mit einschließt, vergessen. An seine abgründige, auch gewalttätige Vergangenheit will er sich aber gar nicht erinnern, die er hinter sich lassen wollte, als er einen Neuanfang in New York gesucht und gefunden hat.
2) Brooklyn Thomason, die früher die bekannte Rapperin MC Free gewesen ist, hat ihre neue Berufung als Anwältin und Stadtratsmitglied gefunden. Brooklyn ist eine erfolgreiche, bestens in der Stadt vernetzte Lady mit Stil, die privat mit ihrer Tochter im Teenager Alter zu kämpfen hat.
3) Die Künstlerin und Direktorin des Bronx Art Centers Dr. Bronca Siwanoy ist die Bronx. Einerseits ist sie schlau, fast weise und mit ihren bald siebzig Jahren die älteste der Avatare. Andererseits ist sie voller Wut und Argwohn, was sie aber auch gleich der Charme Offensive des Feindes misstrauen und sie auch auf andere seiner Tricks nicht hereinfallen lässt. Bronca, die bald Großmutter werden wird, hat zu ihrem eigenen Sohn kaum Kontakt. Dafür ist ihre Beziehung zu Veneza, die am Empfang des Bronx Art Centers arbeitet, umso enger. Veneza ist für Bronca so etwas wie die Tochter, die sie nie hatte.
4) Die Mathe-Queen Padmini steht für Queens. Padmini wurde als große Hoffnung ihrer Eltern in die USA geschickt und lebt dort nun bei ihrer Tante und deren Familie. Sie studiert Finanzsteuerung, was sie anders als die Mathematik nicht leiden kann. Aber mit diesem Studium und ihrem Praktikum in der Finanzbranche hofft sie nach ihrem Abschluss leichter einen Job zu finden, um in New York bleiben zu können.
5) Aislyn Houlihan lebt noch zu Hause bei ihren Eltern auf Staten Island und arbeitet dort in einer Bücherei. Ihr Vater, der Polizist ist, kontrolliert sie und bestimmt so ihr Leben und das ihrer Mutter. Aislyn lässt sich das alles gefallen und schluckt jeden Ärger darüber runter, da sie sich einredet, dass es ihr Vater nur gut mit ihr meinen würde. Aislyn fürchtet sich vor dem Rest der Stadt New York, der anders als Staten Island voller Krimineller ist. Denn ihr Vater hat ihr diese Angst eingetrichtert, die sie daran hindert ihre Insel zu verlassen, auch wenn sie das will.

Die Charaktere unterscheiden sich so grundlegend voneinander wie die Stadtteile von New York, die sie repräsentieren. Das verleiht den Beziehungen der Avatare untereinander ihre Würze und lässt deren Dynamik interessant werden, da jedes Teamwork zur Herausforderung wird. Jeder Charakter für sich ist jedoch recht überzeichnet dargestellt, was ihn fast zu stereotyp wirken lässt. So ist Manny oft übertrieben charmant und aalglatt, Brooklyn so abgehoben wie arrogant und Bronca ständig wütend und argwöhnisch. Dies liegt aber in der diesem Roman zugrunde liegenden Idee begründet, da jeder Avatar den Wesenskern seines Stadtteils verkörpern soll. Brooklyn beschreibt etwa zu Beginn, dass sie fühlt, wie sie sich dahingehend verändert, dass ihr früheres Rapper Alter-Ego MC Free wieder stärker hervortritt. Im Gegensatz zu den ziemlich einseitig charakterisierten Avatare ist für mich Veneza zur Sympathieträgerin geworden. Denn Veneza, die die so aufbrausende "Old B" Bronca zu beruhigen und zu erden vermag, von der sie liebevoll "Little B" genannt wird, hat sich nach Kräften bemüht die Avatare zu unterstützen und ihnen zu helfen.
Da mir zwar New York Klischees wie der berüchtigte New Yorker Fahrstil bekannt sind, ich aber noch nie in New York gewesen bin, habe ich als cleveren Schachzug empfunden, dass Manny zu Beginn des Romans seinen ersten Tag in New York hat. Indem für Manny alles neu gewesen ist, musste ihm New York von Grund auf - etwa von Brooklyn - erklärt werden. So haben auch nicht New Yorker eine gute Chance dem Roman folgen zu können. Ich würde aber vermuten, dass man umso mehr Spaß an dem Buch hat, je besser einem New York bekannt ist.

Der Roman ist meiner Ansicht nach eher weniger gut für diejenigen, die nichts mit New York im Speziellen und Großstädten im Allgemeinen anfangen können, geeignet. Denn das Buch lässt sich auch als besondere Liebeserklärung an New York, die auch all seine Eigenheiten und seine sonst eher als hässlich gebrandmarkten Seiten mit einschließt, lesen. Und wer noch nie die flirrende Hektik einer Großstadt genossen hat, wenn er in deren pulsierendes Leben eingetaucht ist und sich an deren intensiver Energie berauscht hat, die vom ohrenbetäubenden Lärm der Straßen herrührt sowie von den anderen, die Stadt durchziehenden Lebensadern ausgestrahlt wird, der wird N. K. Jemisin einzigartigen Ansatz, Städte lebendig werden zu lassen, vielleicht eher irritierend finden.
Als Fantasy-Roman würde ich die Wächterinnen von New York allerdings eher nicht einordnen. Mich erinnert der Kampf der Avatare von New York gegen einen Feind, der aus einem Lovecraftschen Albtraum zu stammen scheint, an Science-Fiction mit Horror Nuancen. Denn dieser fußt auf der Viele-Welten-Theorie, in die Konzepte der Quantenphysik - wie insbesondere zum Quantenuniversum - mit einfließen. Weil mich die Multiversum-Thematik interessiert, der dieser Roman durch den Kontext der lebendigen Städte einen ganz eigenen Touch verleiht, hat mir das gut gefallen. Doch wer einen klassischen Fantasy-Roman lesen möchte oder womöglich aufgrund der Vielzahl von Multiversum Filmen wie zuletzt "Doctor Strange in the Multiverse of Madness" oder "Everything Everywhere All At Once" der Viele-Welten-Thematik nun überdrüssig geworden ist, für den ist dieser Roman wohl leider weniger gut geeignet.

Von mir gibt es eine klare Empfehlung für die Wächterinnen von New York, der mich schon mit seinem starken Prolog gefesselt hat. In diesem liefert sich der Avatar, der die ganze Stadt New York repräsentiert, einen ungewöhnlichen Kampf gegen einen an Kreaturen aus Lovecraftsche Horrorgeschichten erinnernden Feind. Die Vielzahl der Action- und Kampfszenen wie Verfolgungsjagden, die durch die wiederholten Angriffe des Feindes auf die verschiedenen Avatare zustande kommt, hat mich überrascht. So wird das Spannungslevel von Beginn an hochgehalten und hat mir beim Lesen kaum Zeit gelassen, Atem zu holen, so wie der Feind die Wächter und Wächterinnen der Stadt auch nicht zur Ruhe kommen lässt, sondern sie fortwährend auf die ein oder andere Art attakiert. Dabei habe ich selten so originelle Kämpfe erlebt, in denen schon mal ein altmodisches Taxi samt Regenschirm oder mathematische Formeln gegen einen zum Leben erwachten Swimmingpool, der die Nachbarskinder fressen will, zum Einsatz kommen.
Die stärksten Kämpfe dieses Romans finden leider aber vor dem Finale statt, das ich dann trotz dem sich daran anschließenden Epilog als ein wenig abrupt empfunden habe. Ich hoffe, dass dies darin begründet liegt, dass die Wächterinnen von New York nur den Auftakt einer geplanten Trilogie darstellen und sich dieser Eindruck dann mit dem Lesen der Fortsetzung dieses ersten Bandes verflüchtigen wird. Im nächsten Band der Reihe möchte ich mehr über den Avatar von ganz New York erfahren, der in diesem Roman nach dem starken Prolog, in dem er wirklich Eindruck bei mir hinterlassen hat, kaum in Erscheinung getreten ist.